«Gut lesen» – Was heisst das?

«Wenn ich lese, sind so viele Ideen in meinem Kopf», schreibt Thomas im vierten Schuljahr am Ende einer Lesestunde in sein Tagebuch.

von Andrea Bertschi-Kaufmann und Thomas Lindauer

Er macht damit auf die kognitiven Prozesse aufmerksam, zu denen Texte anregen. Wie aber entstehen die «Ideen» und was vollzieht sich eigentlich beim Lesen? Zu dieser Frage liegen noch keine abschliessenden Antworten vor. Sicher ist auf jeden Fall, dass es sich beim Lesen um einen Austauschprozess handelt, um eine Interaktion zwischen den Lesenden und dem jeweiligen Text. Diese Interaktion kann erweitert und bereichert werden, wenn sich weitere Personen daran beteiligen: andere Kinder, die sich einen Ausschnitt erzählen lassen, die Lehrerin, die interessiert nachfragt und damit an den Leseerfahrungen teilnimmt, der Bibliothekar, der sich erkundigt, ob das ausgeliehene Buch «gut» war. Immer aber stellt «Lesen» zunächst einmal hohe Anforderungen an die einzelnen Leserinnen und Leser:

  • Sie müssen Schriftzeichen, Wörter und Sätze interpretieren und in Zusammenhänge bringen.
  • Sie müssen den Textteilen Sinn zuordnen.
  • Sie müssen Informationen aus dem Text mit eigenen Erfahrungen verknüpfen.
  • Sie müssen das für sie zunächst Verständliche in den Texten zuerst erkennen, sich einen Sinn daraus konstruieren und von da die Lücken schliessen, welche sich an den schwierigen, noch unverständlichen Textstellen oder mit einzelnen Wörtern aufgetan haben.
  • In Texten, die nicht linear aufgebaut sind, sondern auch Bilder, Grafiken und Tabellen enthalten, müssen sie Zahlen und Wörter sinnvoll aufeinander beziehen.
  • Sie müssen entscheiden, ob sie dem Gelesenen zustimmen oder nicht, das heisst, sie müssen reflektierend lesen.
  • Sie müssen das eben Gelesene in Erinnerung behalten, es vergleichen können mit anderen Texten, deren Lektüre weiter zurückliegt. Nur so verbinden sich die einzelnen Lesemomente zu einer Erfahrungskette, auf welche Leserinnen und Leser bewusst oder unbewusst zurückgreifen.

Lesen erfordert also ein ganzes Bündel von Kompetenzen, und die jeweiligen Teilkompetenzen werden – je nachdem welche Arten von Texten gelesen werden – in unterschiedlicher Zusammensetzung gebraucht:

Wer einen kurzen Text, zum Beispiel einen Witz liest, muss die knapp vermittelten Informationen vollständig aufnehmen und diese in einen Lebenszusammenhang bringen, den er von ausserhalb des Textes kennt. Dann erst wird die Pointe verständlich sein.

Wer eine längere Geschichte, einen Roman liest, muss Informationen zu Personen und Handlungen über viele Seiten hinweg in Erinnerung behalten und sie dann zum richtigen Zeitpunkt im Geschichtenverlauf mit den neuen Ereignissen verbinden. Nur so sind Handlung und auch die Spannung beim Lesen überhaupt erfahrbar.

Wer einen Sachtext mit Grafiken, Skizzen und erklärenden Bildlegenden, einen so genannt diskontinuierlichen Text liest, muss die Aussagen, die in den verschiedenen Elementen an unterschiedlichen Stellen im Text enthalten sind, in einen logischen, das heisst, der beschriebenen Sache angemessenen Zusammenhang bringen.

Wer all diesen Herausforderungen, die sich mit den verschiedenen Textarten stellen, gewachsen sein soll, braucht ausgiebige Erfahrungen mit einer Vielfalt von Lektüren. Je nachdem wird er die eine oder andere Textform besser bewältigen, er wird sich für unterschiedliche Textinhalte interessieren, das heisst, er wird Schwerpunkte in seinem Leserepertoire bilden. Solche Schwerpunktbildungen sind gerade für die heranwachsenden Leserinnen und Leser wichtig, weil sie erst einmal Vorlieben entdecken, entwickeln und pflegen müssen, damit sie überhaupt ein stabiles Interesse am Lesen aufbauen können und dadurch auch bereit sind, die entsprechende Lesearbeit zu leisten.

Gern lesen – gut lesen: zwei Ziele des Leseunterrichts, die zusammengehören

Leselust und Lesekompetenz sind zwar nicht dasselbe, in der Entwicklung, welche Kinder und Jugendliche durchlaufen, gehören sie aber eng zusammen.
Wer Interesse an Texten und Büchern aufgebaut hat, hat alle Chancen eine gute Leserin, ein guter Leser zu werden, das heisst, laufend mit anspruchsvolleren Stoffen fertig zu werden und unerschrocken auch auf die noch nicht vertrauten Formen zuzugehen. Wer aber den Lesevorgang selber als mühsam empfindet, weil die technischen Anforderungen, die Texte stellen, zu hoch sind, oder weil die stille Konzentration beim Lesen schwer fällt, dem wird der Spass von Anfang an verdorben sein. Gerne lesen ist eine wichtige Voraussetzung für gutes Lesen, und beides sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Leseentwicklung; sie hängen wechselseitig voneinander ab: Nur wer die Lust an Texten und an dem, was sie erzählen oder aufzeigen, schon empfunden hat, wird weitere, zunächst vielleicht mühevollere Schritte tun wollen und damit seine Lesekompetenz ausbauen. Und umgekehrt müssen Menschen bereits möglichst leicht mit Schrift, Grafiken und Bildern umgehen können, um Inhalte zu erschliessen. Erst dadurch kommen sie in die Lage, sich allmählich auch Schwierigeres zutrauen.

Lesen, verstehen, arbeiten mit Texten: das Lesetraining

Ein Drittes ist schliesslich das «Lesetraining», das auf unterschiedlichsten Stufen der Leseentwicklung die Fertigkeiten im Umgang mit den verschiedenen Textformen und ihren lesetechnischen Herausforderungen schult. Das Einüben von Techniken, mit denen dichte und lockere, kontinuierliche und nicht-kontinuierliche Texte bewältigt werden können, ist auf allen Stufen der Leseentwicklung wichtig und die Ergebnisse aus PISA 2000 haben insbesondere hier auf die Defizite der Schule deutlich aufmerksam gemacht. Ein gemeinsames Übungsprogramm, das für die ganze Klasse geeignet wäre, ist allerdings nicht denkbar, zu unterschiedlich sind die Fertigkeiten der einzelnen Kinder und Jugendlichen. Viel eher empfiehlt sich ein Angebot, mit dem verschiedene Teilkompetenzen auf je unterschiedlichem Niveau trainiert werden. Für die einzelnen Lernenden ist dann jener Schwierigkeitsgrad und jener Aufgabentyp auszuwählen, die ihrem jeweiligen Fertigkeitsstand angepasst sind. Wolfgang Menzel hat kürzlich in Praxis Deutsch (s. Heft. 176/2002, S. 20–48) ein Lesecurriculum zusammengestellt, das als Grundlage für eine eigene Sammlung genutzt werden kann. Einige wenige Beispiele daraus:

Lesen und Informationen ermitteln

  • Zu Textüberschriften Erwartungen an den Text formulieren
  • Nach Einzelabsätzen Fragen über den Textfortgang formulieren
  • Fragen beantworten, die im Text selbst gestellt werden
  • Fragen zu einzelnen Wörtern, die im Text enthalten sind, formulieren
  • Texte gezielt auf vorgegebene Fragen hin lesen
  • Orientierendes, überfliegendes Lesen
  • Genaues, an vorgegebenen Teilinformationen orientiertes Lesen
  • Zu einzelnen Absätzen Zwischentitel formulieren
  • Die Zwischentitel sind verwürfelt vorgegeben, man muss sie ordnen und richtig zuordnen
  • Die Zwischentitel werden selbständig formuliert

Lesen und Informationen vergleichen

  • Zwei fast wortgleiche Texte miteinander vergleichen – Veränderungen feststellen
  • Textinformationen mit Bildinformationen vergleichen (z. B.: Welches Bild passt zu welchem Text?)
  • Textinfomationen mit tabellarischen Informationen vergleichen
  • Ineinander geschriebene Texte entflechten
  • Texte mit unterschiedlichen Absichten (Werbung, Ironie …), aber mit ähnlichem Inhalt vergleichen
  • Texte mit sich ergänzenden Inhalten vergleichen
  • Textentwurf und überarbeitete Fassung vergleichen

Lesen und Informationen verarbeiten

  • Aussagen zu einem Text mit dem Text selber vergleichen
  • Meinungen / Urteile mit dem Text vergleichen
  • Aus vorgegebenen Sätzen den passenden dem Text hinzufügen oder in ihn einfügen
  • Schlussfolgerung aus einem Text ziehen
  • Zu einem Text eine Tabelle, zu einer Tabelle einen Text anfertigen
  • Zu Texten Skizzen / Bilder anfertigen
  • Meinungen zu einem Text selbst formulieren
  • Offene Fragen zu Texten formulieren

Schreiben wirksam fördern. Lernarrangements und Unterrichtsentwicklung für alle Stufen

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Multiple Dokumente verstehen und verarbeiten: Anforderungen und Förderansätze

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