Vom Umgang mit Helvetismen in der Schule

Vielen Sprachverwenderinnen scheint aber der Unterschied zwischen Dialekt und Standardsprache nicht (immer) klar zu sein, und auch in der Schule führt der Umgang mit Helvetismen und ihre Verwendung immer wieder zu Verunsicherung.

von Stefanie Wyss

Die Feststellung, dass die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und in der Schweiz nicht die genau gleiche ist, stellt keine bahnbrechende Erkenntnis dar. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen deutschen Sprachen geben aber immer wieder Anlass zu leidenschaftlichen Diskussionen u.a. in den Medien: Als zum Beispiel der Grossverteiler Coop zu Beginn der Grillsaison verkündete, dass die SchweizerInnen von nun an grillen könnten, füllten sich die Kommentarspalten von Onlineportalen mit Posts von entrüsteten LeserInnen, denn in der Schweiz werde schliesslich nicht gegrillt, sondern grilliert.Auch die Migros nannte in einer ihrer Kampagnen den Zürichsee fälschlicherweise Zürichersee2 und setzte sich damit ins sprachliche Fettnäpfchen.

Grilliert ist ein sogenannter «lexikalischer Helvetismus»; diese sind charakteristisch für die Schweizer Standardsprache. Dass heute auch diese Sprache als Standard des Deutschen betrachtet wird, ist Resultat eines langen Umdenkprozesses: Lange Zeit wurde geglaubt, dass das «einzig wahre Deutsch» in Deutschland gesprochen und geschrieben werde. Dieses wurde in der Region Hannover verortet. Die verschiedenen Formen des Deutsch in Österreich und in der Schweiz wurden als dialektal oder schlicht als falsch betrachtet. Insbesondere in der Schule wurden und werden Schweizer (Standard-) Wörter als falsch angestrichen.

Das Deutsche ist – ähnlich wie Portugiesisch in Portugal und Brasilien oder das Englische in den USA und England oder Australien – eine plurizentrische Sprache (vgl. Infobox). Die Perspektive, dass auch Deutsch eine plurizentrische Sprache ist, hat sich in Fachkreisen durchgesetzt; vielen SprachverwenderInnen scheint aber der Unterschied zwischen Dialekt und Standardsprache nicht (immer) klar zu sein, und auch in der Schule führt der Umgang mit Helvetismen und ihre Verwendung immer wieder zu Verunsicherung.

Was sind Helvetismen?

Helvetismen sind keine Dialektwörter, sondern Wörter aus dem Wortschatz der Schweizer Standardsprache: Diese Standardsprache wird in der öffentlichen, nicht-dialektalen Kommunikation verwendet. So unterscheidet die Sprachwissenschaft verschiedene Typen von Helvetismen:

Lexikalische Helvetismen: Meist wird – wie in den obigen Beispielen gezeigt – von den lexikalischen Varianten gesprochen. Diese sind wohl die bekanntesten. Zu diesen gehören auch fremdsprachliche Entlehnungen aus dem Französischen und Englischen.

Pragmatische Helvetismen: Ammon (1995: 281) nennt als Beispiel für einen pragmatischen Helvetismus, dass es in der (Deutsch-) Schweiz üblich sei, den/die GesprächspartnerIn ausreden zu lassen. Zudem nennt er die unterschiedliche Verwendung von «Deziliter» als pragmatischen Helvetismus: So werde in Deutschland «Deziliter» nur in der «naturwissenschaftlichen Fachsprache» verwendet, aber in der Schweiz sei ist es auch üblich, Getränke mit «Deziliter» zu beschriften.

Orthografische Helvetismen: Ein für Deutsche und ÖsterreicherInnen besonders auffälliger orthografischer Helvetismus ist die ‹ss›-Schreibung (Grüsse vs. Grüße) sowie die Beibehaltung der fremdsprachlichen Schreibweise (Friseur vs. Frisör).

Grammatikalische Helvetismen: Syntaktische Helvetismen treten bei Kasus, Präpositionen und bei der Wortstellung auf. Zudem gibt es im Schweizer Standard Nebensätze mit Verb-Erst-Stellung wie beispielsweise bei Schade, bist du nicht früher eingetroffen sowie die Vorfeld-Besetzung von gewissen Adverbien zum Beispiel bei bereits. Weitere grammatikalische Helvetismen gibt es bei der Numerus- und Genusmarkierung wie «das Tram», «das Mail», die in Deutschland und Österreich als Feminina gebraucht werden.

Umgang mit Helvetismen in der Schule

Die Schule muss den SchülerInnen ein korrektes Standarddeutsch beibringen. Dabei sollte sie sich nicht nur an der deutschen, sondern auch an der Schweizer Standardsprache orientieren und einen reflektierten Umgang mit Helvetismen vermitteln: Wenn beispielweise MaturandInnen in der Präsentation der Maturaarbeit einen Punkteabzug erhalten, wenn «Helvetismen oder andere Slangausdrücke stören resp. […] präzise Formulierungen ersetzen», dann zeigt sich ein zu eingeschränktes Verständnis von Helvetismen: Helvetismen sind gerade keine Slangausdrücke oder gar unpräzis. Und im Berner Gymnasiallehrplan wird zwar für das neunte Schuljahr im Grundlagenfach Deutsch als Grobziel verlangt: «Sie [die SchülerInnen, S.W.] sprechen korrekt Schweizer Standarddeutsch.» Paradoxerweise soll das Ziel jedoch durch die Aufforderung: «Helvetismen erkennen und überwinden» erreicht werden. Hier zeigt sich, dass Helvetismen vielerorts immer noch als nicht-korrektes Deutsch betrachtet werden. Und auch in Lehrmitteln für die Oberstufe finden sich Übungen, in welchen die SchülerInnen beispielsweise aufgefordert werden, Helvetismen wie «parkieren», «Abfallkübel» oder «Tram» ins Hochdeutsche zu übersetzen.4 Inzwischen wächst jedoch das Bewusstsein für Helvetismen und neuere Lehrmittel nehmen das Thema auch zum Anlass, über die verschiedenen deutschen Standardsprachen zu informieren und Schweizer Besonderheiten zu reflektieren wie beispielsweise im Lehrmittel «Die Sprachstarken».

Der Umgang mit Helvetismen in der Schule hängt stark von der Einstellung und dem Wissen einer Lehrperson über den Status der Schweizer Standardsprache ab. Untersuchungen haben gezeigt, dass Teutonismen (bundesdeutsche Varianten) von Schweizer Lehrpersonen am meisten akzeptiert werden, Helvetismen am wenigsten (Ammon 1995: 441). Dieser Befund deutet darauf hin, dass Deutschschweizer Lehrpersonen gegenüber ihrer eigenen Varietät eher ablehnend eingestellt sind. Dies hat auch Auswirkungen auf die Notengebung, denn nationale Varianten können sich beispielsweise «ungünstig» auf eine Aufsatznote auswirken (ebd.: 444). Doch gerade bei der Korrektur von Schülertexten sollte sorgfältig darauf geachtet werden, dass man nicht die in Deutschland gepflegte Standardvariante überbewertet. Vielmehr gilt es den SchülerInnen zu vermitteln, dass die deutsche Standardsprache in den einzelnen deutschsprachigen Ländern unterschiedliche Merkmale hat, die oft auch aus dem jeweiligen Dialekt gespiesen (auch ein Helvetismus) werden, wobei der grösste Teil der Standardsprache in allen Ländern gleich ist. Die DeutschweizerInnen gehören  zum  deutschsprachigen  Kulturraum, in dem sie mit anderen sprachlich viel gemeinsam haben, sich aber doch mit ihrem Standarddeutsch    von    vielen    anderen Deutschsprechenden unterscheiden und so eine eigene sprachliche Identität haben. Diesen reflektierten und selbstbewussten Umgang  mit  dem  Schweizer  Standarddeutsch gilt es auch in der Schule zu vermitteln.

 

Unter einer plurizentrischen Sprache wird eine Sprache verstanden, die in lokal unterschiedlichen Zentren – z. B. Deutsch- land, Österreich und die Schweiz – geschrieben bzw. gesprochen wird. Diese dort verwendeten Sprachen werden als Varietäten des Deutschen bezeichnet.

 

http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Coop-grillt–Sprachpuristen-kochen-25897943.

http://www.20min.ch/schweiz/zuerich/story/24765861.

http://www.gymlaufen.ch/fileadmin/pdf/was/matura- arbeiten/muendliche-praesen-tationen-skala.pdf

Alex Bieli und Ruedi Fricker (20113): Deutsch Kompaktwissen. Band 2. Textsorten und Stilistik. hep: Bern.

 

Literatur
Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. De Gruyter: Berlin.

Wicki, Marco (2012): Gibt es ein Schweizer Standarddeutsch? Pro und Contra. In: Stolz, Michael/Schöller, Robert: Germanistik in der Schweiz. Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik. 9 (2012). 35–55.

 

Stefanie Wyss ist wissenschaftliche Assistentin am Zentrum Lesen. Sie hat sich in ihrer Masterarbeit an der Universität Bern mit der Verwendung von Helvetismen in der Wissen- schaftssprache auseinander- gesetzt. Zurzeit arbeitet sie im Forschungsprojekt «Basale Schreibfertigkeiten fördern (BASCH)» und schreibt an ihrer Dissertation.

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