Was macht gute Kinder- und Jugendliteratur aus?

Seit es das Zentrum Lesen gibt, spielt die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur in vielen Projekten und in der Zusammenarbeit mit Lehrpersonen eine bedeutsame Rolle. Immer wieder wird Maria Riss, die Fachfrau für Kinder- und Jugendliteratur am Zentrum Lesen, mit der Frage konfrontiert, was denn ein gutes Kinder- oder Jugendbuch sei. Nora Kernen hat sie dazu befragt.

von Nora Kernen und Maria Riss

Was macht ein gutes Buch aus?

Das ist eine schwierige und auch heikle Frage. Überlegen Sie sich mal folgendes. Sie erhalten den Auftrag, für einen 55-jährigen Mann, den Sie nicht kennen, ein gutes Buch zu kaufen. Sie wären vermutlich ziemlich ratlos. Sie können ein besonders wertvolles Buch kaufen – Weltliteratur, das sind gute Bücher, mit Sicherheit. Aber ob dieser Herr literarisch wertvolle Bücher mag? oder Sie können schauen, was auf der Bestsellerliste zuoberst steht. Da ist die Wahrscheinlichkeit schon grösser, dass Sie den Geschmack des künftigen Lesers treffen. Aber schauen Sie auf der Sachbuchliste nach oder bei den belletristischen Büchern? Sie sehen, die an sich banale Frage, was ein gutes Buch sei – sie ist nicht einfach zu beantworten.

Und was gibt es bei der Suche nach einem Kinder- oder Jugendbuch zu beachten?

Bei der Frage nach einem guten Buch für junge Leserinnen und Leser ist das genauso, wie eben berichtet – nur noch ein bisschen schwieriger: Erwachsene können in der Regel gut und kompetent lesen. Bei Kindern ist das nicht so. Nicht alle Kinder verfügen im gleichen Alter oder der gleichen Jahrgangsstufe über die gleiche Lesekompetenz. Das durchschnittliche achtjährige Kind gibt es nicht. Das Lesenkönnen von Kindern und oft auch von Jugendlichen ist sehr unterschiedlich! Ein Kinderbuch muss also die Lesekompetenz wie auch die oft sehr spezifischen Interessen berücksichtigen.

Das passende Kinderbuch lässt sich vor allem dann finden, wenn man einerseits selbst diese Bücher liest, sich damit befasst, und andererseits die besonderen Interessen und die Lesekompetenz der Lesenden berücksichtigt. Beim Lesen von Kinder- und Jugendbüchern wird man entdecken, wie viele ausgezeichnete Geschichten, Sachtexte und Romane es für Kinder und Jugendliche gibt. Die Kinderliteratur ist längst keine kleine Literaturgattung für Kleine mehr!

Inwieweit kann ich mich auf den Jugendliteraturpreis verlassen, wenn ich nach einem gute Kinderbuch suche?

Mit dem Jugendliteraturpreis werden Bücher in Deutschland, der Schweiz und Österreich prämiert. Das sind in aller Regel ganz wunderschöne und spezielle Bücher. Literarisch wertvoll, künstlerisch gestaltet. Aber literarische Bildung und Leseförderung gehen leider nicht immer Hand in Hand. Und das ist ja auch verständlich: Wer noch grosse Mühe mit dem Lesen hat, für den gelten andere Kriterien als jene der schön gestalteten Sprache und der kunstvollen Erzählweise. Wenn es schon so anstrengend ist, das Lesen, da muss das, was man mühevoll entziffert, auch spannend und vor allem unterhaltsam sein.

Und wie bringe ich Kinder oder Jugendliche dazu, auch etwas anspruchsvollere Bücher zu lesen?

Ich denke, es braucht bei vielen Kindern Erwachsene, die vermitteln, die ihnen helfen, einen Zugang zu finden. Vorlesen heisst hier wohl das Zauberwort, miteinander in Geschichten eintauchen. Am besten gelingt dies, wenn sich Erwachsene selber von den Texten begeistern lassen, wenn sie sich ebenso für den Fortgang einer Geschichte interessieren wie die Zuhörenden selbst. Das Heranführen an literarische Texte kann schon sehr früh beginnen. Denken wir nur an all die vielen wunderschönen Kindergedichte oder Nonsensverse, welche bei so vielen Kindern die Freude an der Sprache wecken. oder an Bilderbücher, die oft ungewohnt und vielleicht gar sperrig illustriert sind – Kinder wollen Geschichten immer wieder hören. Besonders wichtig ist die Begleitung, wenn wir als Erwachsene gar nicht mehr so sehr daran denken, nämlich dann, wenn die Kinder zwar lesen können, aber noch keine grosse Übung darin haben. Da geht das Lesen meist noch sehr langsam, ist so anstrengend und mühevoll, dass die Versuchung sehr gross ist, mit der ganzen Plackerei aufzuhören. Hier sind erwachsene Begleiter gefragt, Väter, Mütter, Onkel, Omas, die vorlesen, die ein echtes Interesse für die Lesestoffe der Kinder zeigen, die mit den Kindern gemeinsam lesen, mit ihnen diskutieren, ihnen Zugänge auch zu anspruchsvolleren Texten geben. Ein gutes Hilfsmittel sind da auch Hörbuchversionen von Büchern, dies gilt vor allem auch für Jugendliche. Wenn die Texte von guten Sprecherinnen oder Sprechern vorgelesen werden, kommt oft die Schönheit der Sprache erst richtig zur Geltung. Zudem können Kinder die gleiche Geschichte immer wieder anhören. Manche tun dies unglaublich gern – und sie tun es tagelang.

Was macht ein gutes Kinder- und Jugendbuch aus?

Im Grunde genommen gelten für Kinderbücher die gleichen Kriterien wir für die Lektüren von Erwachsenen: Bücher müssen gute Geschichten erzählen. Leserinnen und Leser brauchen Figuren, in denen sie sich wieder finden, an deren Schicksal sie sich beteiligen, an deren Glücksmomenten sie sich mitfreuen können. ohne emotionale Beteiligung macht das Lesen von Geschichten keinen Spass, ohne Figuren, mit denen sich Kinder gefühlsmässig identifizieren können, bleiben geschriebene Sätze für sie belanglose Phrasen.

Andreas Steinhöfel hat es so formuliert: Ich kann eine Geschichte episch erzählen oder sie als hektische Wortflut inszenieren: In beiden Fällen wird sie unwirksam sein, wenn ich nicht mir – und dem Leser – die Zeit nehme, die darin agierenden Figuren psychologisch glaubhaft zu entwickeln, ihr Leiden und ihr Gesunden in und an der Welt wahrhaftig zu formulieren.

Für mich kommt hinzu, dass gute Autorinnen und Autoren die lesenden Kinder ernst nehmen, dass sie sich nicht anbiedern, dass sie von keiner Zwergenphilosophie ausgehen, die Kinder klein macht und sie entmündigt. Es braucht in den Geschichten Anknüpfungsmöglichkeiten an ihren Alltag und ihre Erfahrungen. Dabei kann es aber durchaus auch mal das Fremde sein, das interessiert, das Unbekannte. Ich denke, ich will informieren, und ich will, dass meine Bücher das bringen, was ich selbst von allen Büchern erwarte: Erweiterung des Blickfelds. Man kann nicht alles selbst erleben, aber man kann sehr wohl gelesene Erfahrung sammeln, meint Mirjam Pressler dazu.
Es gibt Bücher, die für mich all die Kriterien für ein gutes Kinder- oder Jugendbuch erfüllen, nicht nur hinsichtlich der guten Geschichte, sondern auch in Bezug auf ihre literarisch-ästhetische Gestaltung. Mirjam Presslers «Nathan und seine Kinder» oder die «Rico-Trilogie» von Andreas Steinhöfel – das sind für mich wirklich gute Kinder- und Jugendbücher, vorbehaltlos. Und wen wundert’s? Sowohl Mirjam Pressler wie auch Andreas Steinhöfel, beide sind Jugendliteratur-Preisträger.

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