Sprachliche Kreativität

Kreativität gehört zu jenen Begriffen, die seit einiger Zeit in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen Konjunktur haben, nicht nur in der sog. Kreativwirtschaft, sondern auch in den Wissenschaften. Typische Arbeitsfelder der Kreativwirtschaft sind etwa der Architekturmarkt, die Design-, Film- und Musikwirtschaft, die Software-Industrie und der Werbemarkt.

von Michael Becker-Mrotzek, Universität zu Köln

Gemeinsam ist diesen Feldern, dass hier Neues erdacht und kreiert wird, etwas, das auf irgendeine Weise anders ist als Vorhandenes. Der Begriff ist durchweg positiv konnotiert, d.h. kreativ zu sein gehört zu den wünschenswerten und positiven Eigenschaften eines Menschen. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen der Moderne, denn bis zur Aufklärung bestand ein Schaffensideal darin, vorhandene Muster in der Literatur oder Architektur möglichst perfekt nachzubilden. So verwundert es nicht, wenn sich im Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul von 1896 noch kein Eintrag zum Stichwort «Kreativität» findet. Heute lassen sich zwei zentrale Bedeutungen unterscheiden: Einmal verstehen wir darunter so etwas wie «schöpferische Kraft, kreatives Vermögen: ein Künstler von großer Kreativität» und zum anderen die «mit der sprachlichen Kompetenz verbundene Fähigkeit, neue, nie gehörte Sätze zu bilden und zu verstehen (Sprachwissenschaft)» (vgl. Deutsches Universalwörterbuch, 2001).

In der Sprachwissenschaft, insbesondere in der generativen Grammatiktheorie nach Noam Chomsky, zählt Kreativität zu den Merkmalen der natürlichen Sprachen, oder genauer zur angeborenen Sprachfähigkeit des Menschen. Damit ist unsere Fähigkeit gemeint, von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch zu machen. Wir wählen aus einer begrenzten Menge von Wörtern die passenden aus, kombinieren diese nach den Regeln der Grammatik und bilden so immer wieder neue Sätze und Äußerungen. Das ist die sog. regelgeleitete Kreativität. Hier nutzen wir das vorhandene Regelsystem, um unsere Ideen und Absichten sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Auf diese Weise stützen wir zugleich das Sprachsystem, weil sich die Regeln durch ständiges Anwenden verfestigen.

Etwas anders verhält es sich mit der sog. regelverändernden Kreativität, die bewusst mit den Regeln bricht und Äußerungen hervorbringt, die das System eigentlich nicht vorsieht. Beispiele hierfür finden sich etwa in der Werbung oder Jugendsprache. Hierzu zählen Ausdrücke wie «unkaputtbar, sparnünftig, SchülerInnen …», die sich dadurch auszeichnen, dass sie im strengen Sinne ungrammatisch sind, weil sie gegen bestehende Regeln verstoßen. Dabei werden die Regeln aber nur soweit verletzt, dass die Bedeutung der so entstehenden Äußerungen noch erschlossen werden kann. Die Übergänge zu Wortneuschöpfungen sind hierbei fließend.

In der Psychologie versteht man unter Kreativität «das Auftreten ungewöhnlicher oder ungebräuchlicher, aber angemessener Reaktionen. […] Es gilt als selbstverständlich, dass Originalität ein Hauptfaktor der Kreativität ist. Hingegen wird die Bedeutung der Angemessenheit des Handelns nicht immer erkannt. Die Angemessenheit liefert jedoch das Kriterium, das zwischen kreativen und unsinnigen Handlungen unterscheidet» (Zimbardo 1995, 536). Das ist auch für schulische Zusammenhänge eine hilfreiche Definition, weil sie ein nützliches Kriterium für die Einschätzung und Beurteilung von mehr oder weniger kreativen Schülerleistungen liefert. Nicht alles, was originell oder neu ist, ist somit auch kreativ. Denn etwas Originelles ist in einem gegebenen oder gedachten Zusammenhang nur dann kreativ, wenn es zugleich auch eine angemessene Handlung, Idee oder Problemlösung darstellt.

Beim kreativen, schöpferischen Prozess lassen sich drei Teilfähigkeiten oder Elemente unterschieden:

a) die besondere Wahrnehmungsfähigkeit, die sich beim kreativen Prozess durch eine gesteigerte Sensibilität für die Gegebenheit auszeichnet, indem das Vorhandene auf eine besondere Weise wahrgenommen wird;
b) die besondere Kombinationsfähigkeit, die darin besteht, Beobachtungen, Vorstellungen oder Ideen auf eine neue, bedeutsame Weise zusammenzubringen, d.h. eine spezifische Art von Synthesefähigkeit;
c) die besondere Repräsentationsfähigkeit, die darin besteht, Bilder oder interne Repräsentationen räumlicher oder visueller Art zu erstellen.

Ihren wahrnehmbaren Ausdruck finden diese Prozesse in den sog. kreativen Produkten als ihren greifbaren Veräußerungen. Die kreativen Prozesse werden zusammenfassend auch als divergentes Denken bezeichnet, im Gegensatz zum konvergenten Denken, das sich eher in bekannten Bahnen bewegt.

 

Die Zerlegung des Prozesses in einzelne Bestandteile hilft uns zu verstehen, was beim Kreieren passiert, und das für didaktische Zwecke nutzbar zu machen. Das soll im Folgenden am Beispiel des kreativen Schreibens skizziert werden. Das kreative Schreiben hat eine lange Tradition auch außerhalb der Schule und wird seit der Antike vor allem von Literaten eingesetzt, um Ideen zu generieren, zu strukturieren und in Worte zu fassen. In der Schule und Schreibdidaktik hat es seit vielen Jahren einen festen Platz, weil es bestimmte Aspekte des  Schreibens in besonderer Weise schult und damit die Schreibentwicklung fördert. Das kreative Schreiben entfaltet sein Potential über die drei zentralen Prinzipien der Irritation, der Imagination und der Expression (vgl. Böttcher 2010, 14), denen jeweils zahlreiche Methoden entsprechen. Die Irritation fördert das divergente Denken und kann etwa durch Sprachspiele oder das Verfassen von Nonsenstexten erreicht werden; indem die Schüler/innen Texte ohne Sinn verfassen, wird ihr Augenmerk aus einer anderen Perspektive auf eben dieses zentrale Textmerkmal gelenkt. Das Prinzip der Imagination ermöglicht es, andere Standorte und Perspektiven einzunehmen und so Sachverhalte anders zu sehen. Dabei helfen etwa die Methoden der Phantasiereise oder das Schreiben zu Bildern, die die Schüler/innen dabei unterstützen, für sie neue Ideen zu entwickeln. Und schließlich hilft das Prinzip der Expression, die eigenen Ideen zum Ausdruck zu bringen, etwa durch assoziative Verfahren, indem wir unseren Gedanken freien Lauf lassen.

Kreativität ist demnach ein zentrales Element unseres Daseins im Allgemeinen und unserer Sprache und Sprachfähigkeit im Besonderen. Und auch weil unsere Umwelt in zunehmendem Masse den Umgang mit ungewöhnlichen Phänomenen verlangt, wird Kreativität immer mehr zu einem zentralen Element, das es im Unterricht zu fördern und zu entwickeln gilt.

Literatur

  • Böttcher, Ingrid (Hrsg.) (20106): Kreatives Schreiben. Berlin: Cornelsen.
  • Dudenredaktion (Hrsg.) (20014): Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim: Dudenverlag.
  • Paul, Hermann (19818): Deutsches Wörterbuch. (Bearbeitet von W. Besch) Tübingen: Niemeyer.
  • Zimbardo, Philip (19956): Psychologie. (Am. Orig. 1988, Psychology and Life) Berlin: Springer.

Schreiben wirksam fördern. Lernarrangements und Unterrichtsentwicklung für alle Stufen

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