Zehn Jahre PISA – ein Jahrzehnt Vermessung der Bildungswelt

Das vergangene Jahrzehnt kann angelehnt an Daniel Kehlmanns Romantitel getrost als «Vermessung der Bildungswelt» bezeichnet werden. PISA und co. widmeten sich mit grossem Aufwand der Frage, wie gut Schülerinnen und Schüler für Schule, Berufsausbildung und Anforderungen des Alltags gerüstet sind. Dazu wurden Fähigkeiten in verschiedenen Domänen erfasst, darunter im Lesen. Die wichtigsten Befunde der inzwischen vier PISA-Studien sind Gegenstand dieses Beitrags.

von Philipp Maik

Eine kleine Frage zu Beginn

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Vor Ihnen liegt ein Aufgabenheft, in dem sie eine Passage aus einem Theaterstück des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár finden. In ihr sagt die Figur Turai, ein Dramatiker: «Es ist – teuflisch schwer. Das Theaterstück beginnt. Das Publikum wird ruhig. Die Schauspielerinnen und Schauspieler betreten die bühne, und die Qual beginnt. Es vergeht eine Ewigkeit, manchmal eine ganze Viertelstunde, bis die Zuschauerinnen und Zuschauer herausfinden, wer wer ist und wer was im Schilde führt.»

Die Frage zu dem Textauszug lautet, warum für Turai eine Viertelstunde eine Ewigkeit sei. Vier Antworten stehen zur Verfügung:

  1. Es dauert sehr lange, bis das Publikum in einem voll besetzten Theatersaal ruhig ist.
  2. Es scheint ewig zu dauern, bis am Anfang eines Theaterstücks die Situation geklärt ist.
  3. Es scheint für einen Dramatiker immer sehr lange zu dauern, den Anfang eines Theaterstücks zu schreiben.
  4. Es scheint, dass die Zeit viel langsamer vergeht, wenn in einem Theaterstück etwas wirklich bedeutsames geschieht. (Quelle: OEcD, 2010a, S. 117, 119).

Wie würden Sie antworten? Welche Antwort ist richtig? Und wie haben 15-jährige Jugendliche wohl darauf geantwortet? Zumindest auf die letzten beiden Fragen will dieser Beitrag eine Antwort geben, auf die zweite allerdings erst ganz am Ende.

Was sind die wichtigsten Befunde zur Lesekompetenz?

Die von der OEcD in Auftrag gegebene Studie «Programme for International Student Assessment» erfasst im Drei-Jahres-Zyklus die Fähigkeiten von 15-Jährigen aus verschiedenen Staaten. In jedem Turnus stand eine Domäne im Vordergrund; in den Jahren 2000 und 2009 handelte es sich um die Lesekompetenz. Darunter versteht man in der jüngsten PISA-Studie die «Fähigkeit einer Person, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen, über sie zu reflektieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen» (OEcD, 2010a, S. 24).

PISA hat die Ergebnisse der Tests in «Kompetenzstufen» übersetzt. Davon gab es in den ersten drei Studien jeweils fünf und bei PISA 2009 sieben. PISA bezeichnet Jugendliche, die nicht die Fähigkeiten auf Stufe II erzielen, als Risikogruppe. Ihr Leseverstehen sei zu gering, um an Bildungsangeboten partizipieren zu können. Aufgaben der Stufe II verlangen es, einzelne oder mehrere Informationen zu finden und lokal begrenzte Schlüsse zu ziehen (OEcD, 2010a, S. 58). Es sind also basal zu nennende Fähigkeiten im Lesen, die als Grundlage für ein umfassenderes Textverstehen gelten. Die Eingangsfrage zum ungarischen Theaterstück misst diese Fähigkeit.

Wenn man einen Blick auf die tabellarische Gegenüberstellung einiger Ergebnisse aus den bislang vier PISA- Studien wirft, so zeigt sich, dass ein Sechstel der Jugendlichen mit der Frage zum Grund der gefühlten Ewigkeit überfordert waren. Der Anteil der RisikoschülerInnen hat jedoch von 2000 um rund ein Viertel abgenommen. Weitere bemerkenswerte Trends bestehen darin, dass es eine leichte Zunahme in der allgemeinen Lesekompetenz gab (von 494 auf 501 Punkte). Zugleich verringerte sich der Abstand zwischen leistungsstarken und schwachen Jugendlichen (von 335 Punkten auf 308 Punkte). Das bedeutet, dass es Schweizer Schulen besser gelungen ist, die Heterogenität im Leseverstehen zu mindern, gleichwohl trennen die leistungsstärksten und -schwächsten fünf Prozent der Jugendlichen nicht weniger als vier Kompetenzstufen.
Eine erfreuliche Entwicklung zeichnet sich darin ab, dass die Effekte der sozialen Herkunft und die Differenzen zwischen Einheimischen und Zugewanderten der ersten und zweiten Generation schwächer geworden sind. Umgekehrt haben sich die Differenzen zwischen Jungen und Mädchen von 30 auf 39 Punkte erhöht und betragen inzwischen mehr als eine halbe Kompetenzstufe.


Quellen: OECD (2001, 2004, 2007, 2010a, 2010c)

Fazit

Kommen wir zurück zur Frage aus der PISA-Testbatterie, die zu beginn des beitrags zum ungarischen Theaterstück und der Aussage einer Figur stand. Wenn Sie die zweite Antwort als Lösung gewählt haben, dann darf man Ihnen gratulieren: Sie verfügen demnach über Fähigkeiten, die auch Jugendliche besitzen, die das Mindestmass an Leseverstehen demonstrieren. Trotz aller erfreulichen Tendenzen in den vier PISA-Studien ist kein Grund zum Jubel angesagt, denn immer noch

  • entlässt die Schule drei bis vier Jugendliche pro Klasse mit ungenügenden Leseverstehensfähigkeiten,
  • streuen die Leistungen innerhalb der Jugendlichen erheblich,
  • ist Lesekompetenz stark von Merkmalen der Familie abhängig,
  • haben Jungen und Mädchen nicht gleich gut entwickelte Lesefähigkeiten.

PISA offenbart nicht nur diese Probleme des Bildungssystems, sondern eröffnet auch Lösungsperspektiven. So liessen sich im jüngsten PISA-Durchgang 40 Prozent der Differenzen der Herkunft und 90 Prozent der Geschlechterunterschiede in der Lesekompetenz statistisch über das Lesestrategiewissen und die Lesemotivation aufklären (OEcD, 2010b). Deshalb erscheint eine integrative schulische Förderung von Lesemotivation und -strategien als ein geeigneter Weg, Leistungsdifferenzen zu minimieren. Dafür bedarf es einer sorgfältigen Diagnostik (s. Leseleistungen Jugendlicher sichtbar machen: 4 Lesetests im Überblick) und angemessener Fördermassnahmen. Hier könnte dem Schreiben eine deutlich grössere Rolle zukommen, als man gemeinhin glaubt (s. Das Lesen schreibend fördern).

 

Literatur
OEcD (2001). Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA. Paris: OEcD. OEcD (2004). Lernen für die Welt von morgen. Erste Ergebnisse von PISA 2003. Paris: OEcD.
OEcD (2007). PISA 2006 – Science competencies for Tomorrow’s World. Volume 2: Data. Paris: OEcD.
OEcD (2010a). PISA 2009 Ergebnisse. Was Schülerinnen und Schüler wissen und können: Schülerleistungen in Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Bielefeld: Bertelsmann.
OEcD (2010b). PISA 2009 Results. Learning to Learn – Student Engagement, Strategies and Practices (Volume III). Paris: OEcD.
OEcD (2010c). PISA 2009 Results. Overcoming Social background – Equity in Learning Opportunities and Outcomes (Volume II). Paris: OEcD.

Schreiben wirksam fördern. Lernarrangements und Unterrichtsentwicklung für alle Stufen

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