Standards und Freiräume für die Sprachförderung – Einheitliche Zielsetzungen und vielfältige Wege?

Die Orientierung an Standards, die heute in der Bildungspolitik gefordert wird, verunsichert viele Lehrerinnen und Lehrer. Sie fragen sich, ob ihnen ihre pädagogische Freiheit genommen werde und die Schülerinnen und Schüler nur noch lernen sollen, was auch mit einheitlichen Tests überprüft werden kann. Mit den folgenden Ausführungen sollen Chancen und Grenzen eines standardorientierten Unterrichts erörtert werden.

von Kaspar H. Spinner

1. Bildungsstandards zwischen Lernzielen und Kompetenzen

Standards für die Schülerleistungen sollen, so die einhellige Meinung in Wissenschaft und Bildungspolitik, kompetenzorientiert sein. Sie sollen nicht Unterrichtsinhalte benennen, sondern kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit denen Schülerinnen und Schüler Problemlösesituationen bewältigen können. Was unter dem Begriff der Kompetenzorientierung so als bildungspolitischer Umbruch propagiert wird, erscheint in mancherlei Hinsicht allerdings nur als Fortführung und Wiederauflage des lernzielorientierten Unterrichts, wie er in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Kompetenz- und Lernzielbegriff sind aber nicht einfach austauschbar: Kompetenzen sind komplexer und langfristiger angelegt und nach oben offen. Eine so verstandene Kompetenzorientierung soll vor der Gefahr bewahren, die in der Praxis des lernzielorientierten Unterrichts häufig zu finden ist, nämlich dass man nur das Stundenziel im Blick hat, ohne sich zu überlegen, ob die Schülerinnen und Schüler etwas lernen, das für die langfristig angelegte Kompetenzentwicklung wichtig ist. Die Standards geben die Zielrichtung vor, für den Lernweg ist ein Freiraum gegeben, der auszunützen und verantwortungsvoll von den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern zu gestalten ist.

2. Kompetenzen und Unterrichtsinhalte

Kompetenzorientierte Standards werden in der Bildungsdiskussion vor allem den inhalts- und stofforientierten Lehrplänen gegenübergestellt. Kompetenzen können an unterschiedlichen Inhalten erworben werden. Dies sollte allerdings nicht so verstanden werden, als seien Unterrichtsinhalte beliebig (manche Verlagspublikation zum kompetenzorientierten Strategietraining unterliegt dieser Gefahr). Schülerinnen und Schüler identifizieren sich vor allem mit Inhalten (oder lassen sich durch diese irritieren und zum Nachdenken anregen), und zwar besonders dann, wenn diese mit wesentlichen Entwicklungsaufgaben zu tun haben (Gewinn von Selbstständigkeit, Entwicklung von moralischem Bewusstsein, Beziehung zum anderen Geschlecht usw.). Der inhaltliche Freiraum ermöglicht den Lehrerinnen und Lehrern, den Unterricht so zu gestalten, dass sich die jeweiligen Schülerinnen und Schüler in ihm mit ihren Interessen wiederfinden können.

3. Standardisierung und Heterogenität

Mit der Berücksichtigung der jeweiligen Schülerinteressen ist auch die Frage angeschnitten, wie sich Standards zur Heterogenität von Lernentwicklungen verhalten. In der Theorie sollen Standards in besonderem Masse einen Unterricht ermöglichen, der verschiedene Lernwege zu einheitlichen Kompetenzen erlaubt und so der Heterogenität in Schulklassen Rechnung trägt. In der Praxis besteht allerdings die Gefahr, dass die Standardisierung auch auf die Lernwege und nicht nur auf die zu erreichenden Kompetenzen bezogen wird. Damit geschieht das, was mit der Operationalisierung von Lernzielen zu Feinlernzielen im lernzielorientierten Unterricht geschah und was sich nicht bewährt hat.

Im kompetenzorientierten Leseunterricht kann der Heterogenität zum Beispiel dadurch Rechnung getragen werden, dass nicht eine gemeinsame Klassenlektüre besprochen wird, sondern die Schülerinnen und Schüler nach ihrem Interesse ein Buch wählen und sich dann in Gruppen mit ihrem Buch beschäftigen. Projektorientierte Unterrichtsverfahren stehen nicht in einem Gegensatz zur Kompetenzorientierung.

Die Vorstellung von einheitlichen Zielsetzungen und verschiedenen Wegen muss allerdings noch modifiziert werden. Sie suggeriert, dass Heterogenität etwas ist, was möglichst überwunden werden soll im Hinblick auf das zu erreichende Ziel. Es kommt aber auch darauf an, die Schülerinnen und Schüler in ihren jeweiligen Stärken zu unterstützen. Das lässt sich an der Redefähigkeit veranschaulichen: Der eine Schüler kann vielleicht Ironie und Witz besonders publikumswirksam einsetzen, eine Schülerin hat ein Erzähltalent und kann ihre Präsentation mit kleinen Storys lebendig machen. In der Redeschulung sollten die jeweiligen individuellen Talente weiterentwickelt, also unterschiedliches Fähigkeitsprofile unterstützt werden.

4. Kompetenzmodelle, Tests und Unterricht

Die Didaktik ist derzeit intensiv damit beschäftigt, zu den einzelnen Kompetenzen Kompetenzmodelle zu erstellen. Die Probleme, die sich hierbei ergeben, zeige ich an einem Beispiel.
In der «Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung» (IGLU) wird ein vierstufiges Kompetenzmodell ausgewiesen, das für literarische und nicht-literarische Texte gültig ist (4. Schuljahr):

I Gesuchte Wörter in einem Text erkennen
II Angegebene Sachverhalte aus einer Textpassage erschliessen
III Implizit im Text enthaltene Sachverhalte aufgrund des Kontextes erschliessen
IV Mehrere Textpassagen sinnvoll miteinander in Beziehung setzen

(W. Bos u.a.: Erste Ergebnisse aus IGLU. Münster 2003, 88)

In einer der publizierten Beispielaufgaben zu einem Text («Der Hase kündigt ein Erdbeben an») wird zum Beispiel gefragt: «Was ist die wichtigste Aussage dieser Geschichte?» Vorgegeben werden vier Antworten (multiple choice), richtig ist «Überprüfe erst die Lage, bevor du in Panik gerätst» (ebd. 91). Die Aufgabe wird der Kompetenzstufe II zugeordnet, was irritierend ist. Denn weder ist einsichtig, dass sich die Lösung aus «einer Textpassage» erschliessen lässt (es geht vielmehr um eine Globalinterpretation), noch handelt es sich um einen «Sachverhalt» (erschlossen wird eine Maxime oder Lehre). Dass die Frage trotzdem der Kompetenzstufe II zugeordnet ist, hat wohl psychometrische Gründe; für eine höhere Kompetenzstufe wäre die Aufgabe zu leicht.

Man sieht an solchen Beispielen, dass sich hinter einheitlichen Kompetenzbeschreibungen in Tests sehr Heterogenes verbirgt. Deshalb sollte man auch sehr vorsichtig damit sein, die Kompetenzmodelle, die für Tests entwickelt werden, auf den Unterricht zu übertragen. Für Lernaufgaben und Individualbeurteilung sind sie nicht geeignet.

5. Fachübergreifende Kompetenzen

Standards werden fachspezifisch formuliert. Das bewirkt für das Fach Deutsch eine starke Konzentration auf Aspekte des sprachlichen Lernens. Nun hat sich der Deutschunterricht aber immer auch allgemeinen, fachübergreifenden Bildungszielen besonders verpflichtet gefühlt. Zu nennen sind dabei vor allem Denkschulung, Imaginationsfähigkeit, Fremdverstehen (in Verbindung mit Identitätsbildung) und ästhetische Sensibilität. Solche Bildungsziele können insbesondere im Umgang mit literarischen Texten angestrebt werden; sie sind aber mehr als literarisches Verstehen. Ein erfolgreicher Literatur-(und auch Gesprächs-)unterricht wäre also nicht nur an der Kompetenz des Textverstehens und der Gesprächsfähigkeit zu messen, sondern daran, ob die Schülerinnen und Schüler in ihrer emotionalen, imaginativen und intellektuellen Entwicklung gefördert worden sind. Das reicht über das, was in Standards festgelegt wird, hinaus und bleibt eine grundlegende Aufgabe von Schule.

6. Pflicht und Kür – ein problematisches Denkmodell

Basisstandards können die Auffassung nahe legen, dass in ihnen formuliert sei, was als Grundlage zu vermitteln sei, und dass man, falls Zeit bleibt, noch etwas Zusätzliches machen könne. Aber dieses Zusätzliche ist nicht weniger wichtig und es kann auch nicht erst dann angestrebt werden, wenn die Basisqualifikationen vorhanden sind, etwa in dem Sinne, dass zuerst die Lesekompetenz gesichert werden müsse, bevor es um ästhetische Bildung gehen könne. Dass letztere schon eine Rolle spielt, bevor Kinder lesen können, zeigt sich an der Bedeutung, die das Vorlesen für die literarische Sozialisation hat.

Standards ersetzen nicht das Nachdenken über allgemeine Bildungsziele; sie fordern es vielmehr heraus, weil sich Basisstandards (sinnvollerweise) auf die pragmatisch notwendigen Kompetenzen beschränken und damit einen Freiraum eröffnen; dieser sollte nicht mit Beliebigem gefüllt werden, sondern insbesondere für Bildungsprozesse genutzt werden, die die inneren Kräfte der Schülerinnen und Schüler stärken. Einer kompetenzorientierten Überprüfung mit Tests sind solche Dimensionen nur schwer zugänglich; da können Lehrerinnen und Lehrer, die mit wacher Aufmerksamkeit die Schülerinnen und Schüler und deren Lernwege beobachten, bessere Einblicke gewinnen.

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