Buch des Monats Juni 2018

Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht
Emilia ist gerade mal 14 Jahre alt, als sie alleine und heimlich nach New York fliegt. Mithilfe einer der Kreditkarten ihres Papas war das kein so grosses Problem. Als sie spät abends ihr bereits bezahltes Appartement beziehen will, stellt sich heraus, dass es dieses Appartement gar nicht gibt. An der Adresse trifft sie nur Seth, einen etwa gleichaltrigen Jungen, und seine kleine Schwester Abby. Emilia steht also mit ihrem grossen Koffer wieder alleine auf der Strasse, müde ist sie und kalt ist ihr auch. Bei Jim, einem ziemlich bekifften und kaum mehr ansprechbaren Jungen, findet sie schliesslich Unterschlupf in einem Abbruchhaus. Diese Nacht wird ein einziger Albtraum, weil Emilia, immer so sehr auf Sauberkeit und Ordnung bedacht, in dieser völlig verdreckten Absteige kaum ein Auge schliessen kann. Am nächsten Morgen herrscht in ganz New York Alarmstimmung. Ein Wirbelsturm nähert sich der Stadt. Emilia wendet sich in ihrer Not an die beiden einzigen Menschen, mit denen sie schon einigermassen normal hatte sprechen können, an den Jungen Seth und seine Schwester Abby. Beide lassen Emilia und schliesslich auch Jim nach einigem Zögern in die Wohnung. Weil ihre Mutter für ein paar Tage verreist ist, haben sie Platz. Mit Emilias Kreditkarte lassen sich Vorräte einkaufen und die vier verschanzen sich in der Wohnung. Dann bricht der Sturm mit aller Kraft los, das Haus wackelt und bald gehen auch alle Lichter aus. Die vier müssen zusammenrücken, ob sie wollen oder nicht. So nah mit andern zusammen kann Emilia ihren Sauberkeits-Zwang nicht länger verheimlichen, und sie verrät jetzt auch den Grund ihrer Flucht nach New York: Ihr Vater, Schuldirektor an ihrer Schule, hatte mit einer Schülerin ein Verhältnis. Dies ist erst kürzlich durch die sozialen Medien ans Licht gekommen. Aber jetzt gilt es erstmal, diesen Hurrikan gemeinsam zu überleben. Alle vier wachsen in dieser Situation über sich hinaus. Und in den langen Gesprächen während der dunklen Sturmnächte lernt Emilia eine völlig neue Art von Freundschaft und Geborgenheit kennen. Und das tut unsagbar gut.
Anna Woltz hat einen in jeder Beziehung sehr spannenden Roman geschrieben. Da ist die äusserliche Spannung, dieser Hurrikan, der bei allen grosse Angst auslöst und der so viel Überlebenskunst, Solidarität und Ideenreichtum erfordert. Da ist aber auch die innere Spannung von Emilia, wie kann sie ihre Zwänge meistern, wie soll sie sich gegenüber ihren Eltern verhalten? Einfach wegzulaufen, das kann ja nicht die Lösung sein. Da hilft die grosse Anteilnahme der andern in diesem Hurrikan-Asyl, die zarten Zeichen einer ersten Liebe zu Seth, die Erkenntnis, dass sie selber sehr viel stärker ist, als sie es jemals vermutet hätte. «Hundert Stunden Nacht» ist ein Buch, das vor allem junge Mädchen mit Sicherheit begeistern wird, weil es so viele aktuelle Themen auf eine sehr spannende und doch auch humorvolle Weise anspricht. Für Lesende ab etwa 14 Jahren.

Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Carlsen 2017. ISBN: 978-3-551-58348-2

Rezension: Maria Riss

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