Poetisches Binom – Käse und Licht

Wie bringt man Menschen, wie bringt man Kinder dazu, anregende, spannende, fantasievolle, kreative Texte zu schreiben? Oder anders gefragt: Wie erfindet man Geschichten, wie setzt man seine Fantasie in Gang?

von Thomas Lindauer

Thema

Wer seine Schüler und Schülerinnen dazu verleiten will, Geschichten so zu schreiben, dass man sich selbst für deren Geschichten interessiert, muss genügend Zeit in das Vorbereiten des eigentlichen Schreibens investieren. Dem wird leider viel zu wenig Rechnung getragen: Je nach Thema ist eine Lektion für die Vorbereitung des Schreibanlasses nicht übertrieben viel. Beim Gestalten des Schreibunterrichts sollte man sich immer Folgendes vor Augen halten:

Schreiben ist ein Prozess, der im Wesentlichen in drei Phasen abläuft, wobei jeder Phase genügend Zeit eingeräumt werden muss: 1. Phase: Erzeugen, Erarbeiten eines Plots, eines Erzählfadens. Dafür soll man sich so lange Zeit nehmen, bis jeder Schreiber und jede Schreiberin eine Textidee entwickelt hat. 2. Phase: Produktion einer ersten Fassung der Schreibidee auf Papier. Auch das braucht Zeit. 3. Phase: Überarbeitung der auf Papier gefassten Schreibidee. Und dies braucht erst recht nochmals Zeit.
Hier folgt nun eine Unterrichtsidee, die sich auf die erste Phase bezieht.

Arbeitsschritte

Zur Herstellung von Spannung, das weiss jede Physikerin, braucht es zwei Pole: Ein einziger Pol reicht nicht aus, um einen Funken zu zünden. Jeder Linguist wiederum weiss, dass ein Begriff für sich allein keine Bedeutung hat: Erst in der Beziehung zu andern Begriffen erfährt der Begriff seine Kontur, seine Gestalt, seine Grenzen. Ein Begriff von «hell» steht in einer Beziehung zu einem Begriff «dunkel». Am Anfang steht also nicht das Wort, sondern der Gegensatz. Das meint auch Paul Klee, wenn er schreibt «der Begriff [ist] unmöglich ohne sein Gegenteil». Anders gesagt: Es gibt also eigentlich nur Bi-Nomen – und eine Geschichte kann allein aus einem solchen Binom heraus gezündet, in Gang gebracht werden.

Bei der im Folgenden ausgeführten Schreibidee geht es darum, zwei Begriffe zu finden und sie miteinander reagieren zu lassen. Dies lässt sich ganz unterschiedlich bewerkstelligen: Ich kann beispielsweise zwei Kinder bestimmen, die sich je einen Begriff ausdenken, diesen aber noch still für sich behalten müssen. Ich kann auch jedes Kind einen Begriff auf ein Blatt schreiben lassen und dann per Zufall daraus Paare bilden. Oder …

Wenn sich beide einen Begriff ausgedacht haben, kann ich nun das erste Kind bitten, seinen Begriff an die Wandtafel zu schreiben. Das erzeugt schon einmal Erwartung. Stellen wir uns vor, das erste Kind schreibt das Wort «Hund» an die Tafel. Allein durch das Schreiben an die Tafel wird aus dem Wort «Hund» ein besonderer Hund: unser Hund. Dieser Hund ist kein x-beliebiger Hund mehr, er wird bereits zu einer Figur in unserer zukünftigen Geschichte, wir beginnen ihn uns schon vorzustellen als kleiner Pudel, als grosse Dogge, als … Die Spannung wird grösser, wenn nun das zweite Kind an die Tafel geht und seinen Begriff dazuschreibt. Mit jedem Buchstaben, den es schreibt, steigt die Spannung weiter. Und wenn dann zum Beispiel «Schrank» an der Tafel steht, entstehen in den einzelnen Köpfen bereits Fantasie anregende Fragen: Wie sollen nur die beiden Begriffe in eine Geschichte gepackt werden? Wie soll aus diesen beiden Bildern ein Text entstehen? Hier ist dann meist die Hilfe der Lehrerin, des Lehrers gefragt.

Die einfachste Möglichkeit, zwischen diesen Begriffen eine Beziehung herzustellen, besteht darin, sie mit einer Präposition zu verbinden: «der Hund vor dem Schrank». Na ja, besonders spannend tönt das noch nicht. Aber vielleicht kommt eine Geschichte mit «der Hund auf dem Schrank» in Gang. Möglicherweise braucht es aber noch weitere Kombinationen, zum Beispiel «der Hund im Schrank». Manchmal ist es angebracht, den Beginn einer Geschichte zu formulieren, auch das kann zu einer zündenden Schreibidee führen: «Eines Tages kam Herr K. nach der Arbeit müde nach Hause. Er zog seinen Mantel aus und wollte ihn in seinem Garderobeschrank versorgen. Er öffnete die Tür – und darin sass ein Hund! …».

Ein Teil der Schüler und Schülerinnen entwickelt meist relativ schnell eine eigene Idee, worum es in ihrer Geschichte gehen könnte. Sie könne sich bereits aus der Gruppe entfernen und mit dem Verfassen der ersten Textfassung beginnen. Andere fühlen sich aber noch nicht so weit und brauchen noch mehr Hilfe oder warten auf eine noch spannendere Beziehung zwischen den Begriffen; vielleicht auf «der Schrank auf dem Hund»: «Es war einmal ein Hund, der seinen Kleiderschrank immer auf seinem Rücken mittrug wie eine Schnecke ihr Haus. Dies tat er deshalb, weil er …».

Wie auch immer die Begriffe zustande kommen: Grundsätzlich soll man versuchen, mit den Schreibern und Schreiberinnen zusammen die Beziehung zwischen den Begriffen auf vielfältige Weise auszuloten. Dabei werden immer schon erste Schreibideen entwickelt – nicht bei allen, aber doch bei einigen. Mit den anderen muss man so lang weitersuchen, bis auch sie das Gefühl haben, eine Idee entwickeln zu können, die dann zu einem Text führt.

In meiner Arbeit hat sich dabei Folgendes bewährt: Die Begriffe sollen Dinge bezeichnen oder zumindest Nomen sein. Verben, aber auch zusammengesetzte Nomen haben sich als sehr schwer kombinierbar entpuppt – wenn auch «rudern» und «Hunde» zu wunderbaren Texten geführt hat (vgl. Elke Heidenreich und Bernd Schröder: Rudernde Hunde). Man muss sich genügend Zeit für das Kombinieren der Begriffe lassen. Zuerst lohnt es sich, dabei nur Präpositionen zu verwenden. Manchmal kommt aber auch eine Schreibidee durch eine andere syntaktische Kombination zustande (vgl. «rudernde Hunde»).

Nicht jedes Begriffspaar erzeugt Spannung. In solchen Fällen kann man zwar mit dem oben beschrieben Verfahren den Begriffen manchmal doch noch etwas abgewinnen, aber meist ist es sinnvoller, nochmals zwei Begriffe miteinander oxydieren zu lassen und auf eine bessere Spannung zu hoffen.

Und manchmal zünden zwei Begriffe so gut, dass eine Weiterentwicklung mithilfe von Präpositionen gar nicht nötig ist. In einer Gruppe von Lehramtsstudierenden hatten wir ein mal dieses Glück mit den Begriffen «Käse» und «Licht». Es entstand unter anderen dann eine Geschichte, die wie folgt begann: «Es war einmal ein Käse, der lag so vor sich hin und erfreute sich seines Lebens. Er war reif und brannte darauf, jemandem eine Freude, einen echten Genuss zu bereiten. Er fragte sich, …»

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