Märchen verfremden

Meist hinterfragen diese «Märchen-Neuschöpfungen» die moralischen Kernaussagen der Originale, sie sind witzig, oft schräg und meist so unterhaltsam, dass auch Jugendliche sich gerne damit befassen.

von Maria Riss

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Idee

Es gibt eine Vielzahl von klassischen Märchenvorlagen, die von Autorinnen und Autoren verändert wurden. Janosch war einer der ersten im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, er schrieb in seiner Sammlung «Janosch erzählt Grimm’s Märchen» über 50 Märchen um. Christa Wolf interessiert sich besonders für Dornröschens Küchenjungen und spekuliert über den Hintergrund der Ohrfeige und über seine Zukunft. James Thurber berichtet vom kleinen Mädchen, das sich gegen den bösen Wolf zur Wehr setzte. In einigen Fassungen wird Rotkäppchens Wolf nicht mehr als böser Charakter geschildert, sondern als missverstandene Figur, die im Grunde nur ihre Ruhe haben will, so etwa in «Blaukäppchen» von Philippe Dumas. Auch Günter Grass nimmt in «Die Rättin» Rotkäppchen und den Wolf auf, hier ergreifen Märchengestalten die Macht, stiften Verwirrung und retten schliesslich die Welt. Verfremdete Märchen finden sich in fast allen Sparten der Literatur.

In der folgenden Idee werden Schülerinnen und Schüler angeleitet, selbst ein bekanntes Märchen zu verfremden. Dabei werden die nach klaren Regeln und Mustern geschriebenen Märchen als literarische Vorlage für das eigene Schreiben genutzt. Schülerinnen und Schüler imitieren Formulierungs- und Handlungsmuster und entdecken dadurch neue Ausdrucksmöglichkeiten. Literarische Vorlagen können aber auch genutzt werden, um eine Geschichte zu erweitern: Was passierte am Tag nach Schneewittchens Hochzeit? Wie feiert Dornröschen ihren siebzigsten Geburtstag? Auch das perspektivische Schreiben kann mit bestehenden Geschichten und Märchen geübt werden: Rotkäppchen erzählt ihren Kindern von ihrem gefährlichen Erlebnis mit dem Wolf oder Goldmarie schreibt Frau Holle einen Brief.

Kreative Einfälle kommen meist nicht von alleine, schon gar nicht in der Schulbank und während der Deutschstunde. Literarische Vorlagen und das gemeinsame Entwickeln von Schreibideen in Gruppen können deshalb beim Generieren von Schreibideen sehr förderlich sein. Klare Anweisungen in kleinen Schritten von der Ideenfindung über die Planungsphase, vom eigentlichen Schreiben des Textes bis hin zur Überarbeitung und Präsentation können helfen, die Angst vor dem leeren Blatt zu überwinden und einen stimulierenden Schreibprozess in Gang zu setzen.

Durchführung

Zur Einstimmung wird in der Klasse das Märchen «Das kleine Mädchen und der Wolf» gelesen.Was genau wurde vom Autor verfremdet? Was macht diese Geschichte witzig? Beim Beantworten dieser Kernfragen wird nicht nur deutlich, welche Elemente verändert wurden, es werden auch typische Merkmale dieser Literaturgattung herausgearbeitet. Anschliessend werden Gruppen gebildet und in einem ersten Schritt gemeinsam nach einer Märchenvorlage gesucht, die verfremdet werden soll.

Reflexion/Themenfindung
– Entscheidet euch für ein Märchen, das ihr verfremden wollt.
– Lest das Märchen genau durch.
– Erzählt euch danach gegenseitig in Stichworten den Handlungsverlauf nochmals.
– Klärt für euch, was der Hauptgedanke, die Moral der Geschichte ist.

Anschliessend werden mögliche Figuren und Handlungselemente gesammelt.

Schreibidee generieren
– Erstellt eine Liste der Figuren.
– Erstellt eine Liste der Schauplätze (Handlungsorte).
– Erstellt eine Liste der Gegenstände, Symbole etc. (Beispiel: Rotkäppchens Korb mit Kuchen und Wein).
– Diskutiert, welche Elemente ihr wie verfremden wollt:
» Figuren (Beispiel: Der Wolf ist schrecklich erkältet)
» Schauplätze (Beispiel: Die Grossmutter wohnt in einer Sennhütte)
» Zeit (Beispiel: Das Märchen spielt in der heutigen Zeit)
» Gegenstände (Beispiel: Rotkäppchen hat ein Handy)
» Handlungsweisen einer oder mehrerer Figuren (Beispiel: Rotkäppchen erschiesst den Wolf)
» Moral, Hauptgedanke (Beispiel: Mädchen sind nicht so blöd)

Ihr könnt mehrere Elemente verfremden, ihr müsst einfach aufpassen, dass man noch erkennt, um welches Märchen es sich ursprünglich gehandelt hat. Übernehmt also wichtige Handlungsweisen und Figuren.Tipp: Verändert nicht zu viel, sonst wirkt euer Märchen übertrieben. Es soll ein Märchen, kein Science-Fiktion-Roman entstehen.

Jede Schülerin, jeder Schüler erhält Zeit, sich einen möglichen Handlungsverlauf auszudenken. Gemeinsam werden anschliessend die verschiedenen Vorschläge diskutiert und evaluiert bis sich die Gruppe auf eine Geschichte einigt.

Schreibplanung
– Jeder/jede für sich überlegt sich nun während etwa 5 Minuten einen möglichen, neuen Handlungsverlauf und schreibt diesen in Stichworten auf.
– Anschliessend erzählt ihr euch gegenseitig eure Ideen, ihr gebt euch Rückmeldungen und macht Änderungsvorschläge bis ihr euch auf eine Version geeinigt habt.

Schreibprozess und erste Überarbeitung
– Erst jetzt wird euer neues Märchen aufgeschrieben. Unterteilt euer Märchen in Abschnitte. Jedes Gruppenmitglied schreibt einen Abschnitt auf.
– Setzt euch anschliessend für eine letzte Redaktionssitzung zusammen. Achtet darauf, dass man beim Lesen möglichst nicht merkt, dass hier verschiedene Personen am Werk waren.

Die neu geschriebenen Märchen werden nun präsentiert. Entweder werden sie erzählt, wie es der Tradition entspricht, oder sie werden vorgelesen. Vielleicht entsteht gar ein kleines «schräges» Märchenbuch der Klasse.

 

Das kleine Mädchen und der Wolf
James Thurber

Eines Nachmittags lauerte in einem finsteren Wald ein grosser Wolf darauf, ob nicht ein kleines Mädchen vorüberkäme, das mit einem Korb voller Speisen zu seiner Großmutter wollte. Schließlich kam tatsächlich ein kleines Mädchen vorüber, und es hatte auch einen Korb voller Speisen bei sich. «Trägst du den Korb da zu deiner Großmutter?», fragte der Wolf. Das kleine Mädchen antwortete: «Ja.» Da fragte der Wolf das Mädchen, wo seine Großmutter denn wohne, und kaum hatte das kleine Mädchen es ihm gesagt, da verschwand er im Wald.
Als das kleine Mädchen wenig später die Tür zum Haus seiner Großmutter öffnete, sah es, dass jemand in einem Nachthemd und mit einer Nachthaube auf dem Kopf im Bett lag. Das Mädchen war noch sieben oder acht Meter vom Bett entfernt, als es schon erkannte, dass das nicht seine Großmutter war, sondern der Wolf, denn selbst mit einer Nachthaube auf dem Kopf ist der Wolf einer Großmutter nicht ähnlicher als der Metro- Goldwyn-Mayer-Löwe unserem Präsidenten Calvin Coolidge. Also nahm das kleine Mädchen einen Revolver aus seinem Korb und schoss den Wolf tot. Merke: Kleine Mädchen lassen sich heutzutage nicht mehr so leicht für dumm verkaufen wie früher.

 

Literatur, verfremdete Märchen

  • Hohler, Franz: Die zwölfte Pille. Aus: Hohler, Franz (1993): Der Riese in der Erdbeerkonfitüre. Ravensburg: Ravensburger Verlag.
  • Janosch erzählt Grimm’s Märchen (1996). Weinheim: Beltz Verlag.
  • Thurber, James: Das kleine Mädchen und der Wolf. Aus: Maar, Paul (2006): Östlich der Sonne und westlich vom Mond. Berlin: Aufbau Verlag.
  • Wolf, Christa: Dornröschen und der Küchenjunge.Aus: Manfred Mai Hrsg.(2005): Das Literatur Lesebuch. Ravensburg: Ravensburger Verlag.

Literatur, Grundlagen

  • Böttcher, Ingrid (1999): Kreatives Schreiben. Berlin: Cornelsen Verlag.
  • Spinner, Kaspar (1993): Kreatives Schreiben. In: Praxis Deutsch 119, S. 17–23.

Die Idee stammt aus dem Manuskript zum neuen Lesebuch für das 7. – 9. Schuljahr «Alles und Nichts», welches im Sommer 2012 im Schulverlag plus erscheinen wird.

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