Lesen mit emotionaler Nähe

«… Ich bin nachher so quasi schon in diesem Buch drin …» (Sofie , 16 Jahre)

von Andrea Bertschi-Kaufmann und Esther Wiesner

Wenn Sofie – befragt nach ihren Leseerfahrungen – von ihren Reaktionen auf Bücher berichtet, dann macht sie Aussagen, die erst einmal extrem anmuten mögen. Aber bei allem Wissen darum, dass Jugendliche gerne in starken Kontrasten formulieren, wird eines sehr deutlich: Die Lektüren haben eine Bedeutung für die Lesenden, und diese Bedeutung reicht weit über die Erfahrung hinaus, dass ein Text bewältigt und also verstanden werden konnte: Viele Leserinnen und Leser lassen sich deshalb auf Texte ein, weil sie bereits erlebt haben, dass Texte einen innerlich bewegen können, dass sie Gemütszustände verstärken und je nachdem auch verändern, dass Texte oft Auslöser für emotionale Erfahrung sind.

Das Lesen, das Verarbeiten und das Mitteilen von Lektüren sind zwar erst einmal Denkleistungen, so genannt mentale Konstruktionen, mit welchen sich die Leserinnen und Leser den Sinn und den Sinnzusammenhang im Text erarbeiten. Im Prozess des Verstehens spielt auch das Vorwissen eine wichtige Rolle. Leserinnen und Leser tragen es in die Texte, mit denen sie sich befassen, hinein. Im Lesevorgang leben sie allerdings auch in den Texten, und dies oft in einer Weise, die in kognitiver Hinsicht alleine nicht ausreichend beschrieben werden kann.

Zum Lesen gehört die Vorstellungsbildung (man muss das im Text Berichtete mit dem inneren Auge sehen können) und es gehört die ‚emotionale Nähe’ dazu, denn Vorstellungen gelingen nur jenen, die sich vom Mitgeteilten sensibilisieren lassen. Dies gilt nicht nur für das Lesen von Romanen, sondern auch für den Umgang mit elektronischen Medien, mit welchen sich viele Jugendliche konstruktiv beschäftigen, indem sie mediale Darstellungen auswählen, dann neu montieren und damit ausdrücken, was sie attraktiv und je nachdem auch bewegend finden: in Zusammensetzungen von Textteilen, Videoausschnitten u.a. Ob mit dem Buch oder am Bildschirm, das beteiligte Lesen (Involvement) setzt u.a. Folgendes voraus: gelernte basale Lesetechniken, persönliche Lesemotivationen, Leseziele und ein stabiles Selbstbild als Leserin bzw. Leser. All dies sind wichtige Faktoren für das Gelingen von Lektüren und sie spielen in komplexer Weise zusammen, je nachdem, wie sie bei Heranwachsenden gefördert wurden und sich entsprechend herausgebildet haben.

Lesealltag und seine Bewertung

Im Forschungsprojekt ‚Literale Resilienz – wenn Schriftaneignung trotzdem gelingt’ (www.schriftlernen.ch) haben wir untersucht, weshalb gewisse Jugendliche aus sozial tief gestellten Familien sich im Lesen und Schreiben erfolgreich entwickeln und also resilient gegen Risikoeinflüsse sind, andere hingegen nicht. Dazu haben wir rund 1500 Schülerinnen und Schüler aus vier Kantonen getestet und befragt. Eine ins Gesamtprojekt eingebettete Interviewstudie gibt nun erste Antworten auf die Fragen: Wie situieren und beschreiben diese Jugendlichen, denen aufgrund ihrer sozialen Ausgangslage bescheidene Lesekarrieren vorausgesagt werden, jene Momente, in welchen sie Lesen als persönlich befriedigend erfahren? Und mit welchen Lektüren gelangen sie zu solchen positiven Erfahrungen?

Sinnhaftigkeit und Lesen

Die Jugendlichen berichten von unterschiedlichsten Leseanlässen in ihrer Freizeit: Die einen machen es sich am liebsten mit einem spannenden Buch im Bett gemütlich, andere lesen bevorzugt Zeitschriften auf dem Klo, und wiederum andere können sich vornehmlich für das Lesen von Websites oder Internet-Foren zum Thema Stars, Zaubern oder Games begeistern. Etwas aber haben die allermeisten Befragten gemein: Sie setzen sich regelmässig abends an den Computer, um mit ihren Freundinnen und Freunden im MSN zu chatten. Zum ‚richtigen’ Lesen zählen sie allerdings beinahe ausschliesslich das Lesen von Büchern, ob sie nun selber gern oder ungern, viel oder wenig lesen.

Zum Beispiel Sofie (S), befragt von einer Interviewerin (I):

S :Im Winter les ich noch ziemlich viel, grad wenns ein gutes Buch ist, dann gehts meistens ziemlich schnell.

I: Mhm. Was ist denn so ein / eigentlich äh Lesen für dich? Also wenn ich dich jetzt so frage mal, weil es / an was denkst du, was Lesen ist?

S: Eigentlich, Bücher, denk ich. Aber ja, Chatbeiträge sind eigentlich auch Lesen.

I: Ja.

S: Aber einfach, Bücher, denk ich erst mal.

Hier, in den Büchern, machen sie vertiefte Erfahrungen von Glück, hier fühlen und träumen sie mit. Wiederum Sofie, die solche Erfahrungen eindrücklich beschreibt:

I: Und gibts vielleicht noch andere Gründe, warum du jetzt liest?

S: Ja einfach, wenn man Probleme hat oder so, bei denen man nachher einfach / geht man in eine andere Welt irgendwie durch die Bücher, es ist einfach bei mir so. Dann kann ich einfach / in dieser Zeit vergesse ich einfach, weil ich im Buch drin bin.

Unabhängig davon, ob sie sich selber als Buchleserinnen und -leser empfinden oder nicht, berichten die Jugendlichen, am liebsten dann zu lesen, wenn sie in einer Handlung aufgehen können und die reale Umgebung an Bedeutung verliert. Lesen ist ein Mittel, sich einfach aus Lust oder aber, um eigene Probleme zu vergessen, in eine schönere oder aufregendere Welt hineinzuträumen und sich hierbei in Zeit und Raum zu verlieren.
Obwohl sie andere Arten des Lesens im Umgang mit unterschiedlichsten medialen Aufbereitungen und mit verschiedenen Genres pflegen, berichten sie von emotionaler Nähe in erster Linie im freizeitlichen Buchlesen.

Die Schule hat die anspruchsvolle Aufgabe, Lesefähigkeiten aufzubauen und Lesevergnügen zu vermitteln. Dabei hat sie es sowohl mit passionierten Buchleserinnen und -lesern zu tun als auch mit Jugendlichen, die sich selber als Nicht-Lesende verstehen, dies, weil sie entweder vollkommen leseabstinent sind oder weil ihre private Lesepraxis so gar nicht zu dem passt, was von der Schule angeregt wird. Das freizeitliche Lesen entspricht oft nicht den schulischen Anforderungen, immerhin aber gestaltet es sich für die Jugendlichen als eine anschlussfähige Erfahrung: Im Nachklang an positive Leseerfahrungen suchen sie nach einer Fortsetzung. Selbstvergessenheit, Involvement und Sinnhaftigkeit stellt sich bei ihnen dann ein, wenn sie in den von ihnen bevorzugten medialen Settings wieder und immer wieder lesen können.

Die Herausforderung, vor welcher Lehrerinnen und Lehrer bei der Förderung heranwachsender Leserinnen und Leser stehen, ist deshalb eine dreifache: Sie müssen zum einen das Lesen nach curricularen Vorgaben anleiten und damit allen Schülerinnen und Schülern den Anschluss an die Textwelt ermöglichen. Zum Zweiten müssen sie aber auch Interesse zeigen für die von den Jugendlichen selbst gewählten Lektüren und sich von diesen berichten lassen. Hierzu gehört auch der Austausch über dargestellte Themen und Probleme, über Heldinnen und Helden, Motive und Handlungszusammenhänge, über Beobachtungen und Erfahrungen im Netz usw. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei zur Sprache zu bringen, was sie in Texten interessiert, was sie allenfalls bewegt und umtreibt. Und schliesslich muss die Schule auch ihrerseits Leseangebote machen, welche an die jugendlichen Lesepraxen anschliessen, damit sich junge Leserinnen und Leser bestärkt sehen und bereit sind, weitere Anregungen aufzunehmen.

Mehr zu den Ergebnissen der Studie auf:
www.schriftlernen.ch

Schreiben wirksam fördern. Lernarrangements und Unterrichtsentwicklung für alle Stufen

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Multiple Dokumente verstehen und verarbeiten: Anforderungen und Förderansätze

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