Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir

Madina ist bereits vor zwei Jahren nach Deutschland geflüchtet, in ihrer Heimat herrscht immer noch Krieg. Nach der ersten schwierigen Zeit im Asylzentrum wohnt sie nun, zusammen mit ihrer Mutter, einer Tante und ihrem kleinen Bruder in einer Zweizimmerwohnung. Sie alle haben den Schrecken des Krieges erlebt und sind jetzt daran, ihre Erlebnisse auf irgendeine Art zu verarbeiten und sich in der Fremde zurecht zu finden. Das gelingt nicht allen Familienmitgliedern gleichermassen gut. Rami, der kleine Bruder, findet zwar einen Freund, den er über alle Massen lieb hat, im Kindergarten gibt es aber Schwierigkeiten und er hat wieder begonnen, ins Bett zu machen. Die Tante will sich integrieren – so schnell wie möglich. Sie verbringt ganze Tage damit, Deutsch zu lernen, ist aber sehr labil und will von der alten Heimat am liebsten gar nichts mehr wissen. Madinas Mutter sitzt stundenlang am Tisch, redet kaum mehr, versinkt in den schlimmen Erinnerungen, verzehrt sich vor Heimweh und Sehnsucht nach ihrem verschollenen Mann. Madina, die diese Geschichte in Form eines Tagebuchs erzählt, ist ihrem Vater sehr ähnlich. Sie ist stolz, sie weiss, was sie will, ist eine Kämpferin und will die Schule unbedingt schaffen. Sie lernt verbissen und wehrt sich gegen all die fiesen Beleidigungen, die sie und ihre Familie täglich erleben. Im Dorf gibt es eine Gruppe von Leuten, die Wände beschmieren, Demos organisieren und dabei Parolen wie «Ausländer raus!» skandieren. Madina will sich nie mehr klein machen. Sich auf keinen Fall nochmals vor anderen bücken. Daheim fühlt sie sich verantwortlich für ihre ganze Familie, das kostet enorm viel Kraft und manchmal, da sehnt sie sich danach, für einen Moment loslassen zu können, einfach nur ein junges Mädchen sein zu dürfen.
Selten ist es einer Autorin geglückt, die schwierige Situation von Kriegsflüchtenden, von Migrantinnen und Migranten dermassen präzise zu beschreiben. Madina und ihre Familie sind dazwischen, im wahrsten Sinne des Wortes, sie schreibt in ihrem Tagebuch: «… diese Bilder von früher kommen einfach ungefragt hoch und schieben sich wie eine beschissene Folie zwischen das Jetzt und Heute.» Julya Rabinowich schreibt einfühlsam und behutsam, mit treffenden Metaphern und lässt Lesende unmittelbar an Madinas Gefühls- und Gedankenwelt teilhaben. Die Autorin gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen, ihre Bücher wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Das Thema des Buches könnte aktueller kaum sein und sei Jugendlichen wie Erwachsenen wärmstens empfohlen.

2018 ist der erste Band «Dazwischen: Ich» erschienen, darin erzählt Julya Rabinowich von der ersten Zeit Madinas im Asylzentrum. Die beiden Bücher lassen sich unabhängig voneinander lesen.

Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir. Hanser 2022. ISBN: 978-3-446-27236-1

Rezension: Maria Riss

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