Anna Woltz: Nächte im Tunnel

Die Geschichte spielt in London im Jahr 1940. Sobald es dunkel wird, fallen die Bomben. Tausende von Menschen verbringen die Nächte deshalb in den Schächten der U-Bahn. Wie Sardinen liegen sie dicht zusammengedrängt nebeneinander auf den Bahnsteigen. In diesem Durcheinander treffen drei sehr unterschiedliche Jugendliche aufeinander. Da ist Quinn, ein Mädchen adeliger Herkunft, das von zuhause weggelaufen ist, weil es die starren Normen ihrer Eltern nicht mehr ausgehalten hat. Sie traut sich über alles zu reden, auch über ihre Rolle als Frau und will endlich für andere Nützliches tun. Und da ist Jay, ein Halbwaise, der sich mit kleineren Gaunereien durchs Leben schlägt, der aber immer da ist, wenn jemand Hilfe braucht. Und schliesslich ist da Ella, meist in Begleitung ihres kleinen Bruders, die diese Geschichte erzählt. Ella hat eine bewegte Zeit hinter sich. Mehr als ein Jahr verbrachte sie mit Kinderlähmung im Spital, lag wochenlang eingesperrt in einer künstlichen Lunge. Ella musste nicht nur das Atmen neu lernen, sie muss nun auch mit dem Leben zurechtkommen, vor allem, weil sie sich in dieser langen Zeit sehr verändert hat. Sie ist plötzlich kein Kind mehr, spürt Gefühle, die sie bis anhin nicht kannte. Allmählich entwickelt sich eine wunderbare Freundschaft zwischen den dreien. Sie erzählen einander, was sie umtreibt, berichten von ihren Träumen und all dem Schlimmen, das sie erlebt haben. Diese Freundschaft hilft, in diesem ganzen Chaos klarzukommen und sie zerbricht auch dann nicht, als das Schlimmste passiert.
Anna Woltz erzählt eindringlich und schonungslos, was der Krieg mit Menschen machen kann. Schon im ersten Satz wird dies deutlich: Wir waren zu viert, aber einer von uns wird sterben. Aber sie erzählt auch eine sehr spannende, berührende Geschichte. Überaus glaubhaft hält sie in Worten fest, was diese Jugendlichen bewegt, wie sie sich verändern, was sie über ihre Geschlechterrollen denken und wie sie soziale Unterschiede wahrnehmen. Man erfährt, was die drei von ihrer Zukunft erträumen und wie sie gemeinsam immer wieder Hoffnung schöpfen. Anna Woltz hat dieses Buch vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine geschrieben. Kriege und all das menschliche Leid sind zeitlos, deshalb ist dieser ergreifende und beklemmende Roman aktueller denn je. Für Jugendliche. 224 Seiten.

Anna Woltz: Nächte im Tunnel. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Carlsen 2022. ISBN: 978-3551584748

Rezension: Maria Riss

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