Spreitenbach: Moderner Städtebau im Alltag
Melchior Fischli, Vanessa Vogler
Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, der beim Symposium «Baukulturen der Boomjahre» am 15.06.2023 an der FHNW in Muttenz gehalten wurde. Alle Beiträge finden Sie im Online-Tagungsband.
Vom Bauerndorf zur «halbwüchsigen Stadt»
Die Gemeinde Spreitenbach erlebte in den Jahren der Hochkonjunktur einen selbst für damalige Verhältnisse aufsehenerregenden Bauboom: Eine «halbwüchsige Stadt» war hier vor den Toren Zürichs im aargauischen Teil des Limmattals entstanden, wie eine Reportage in der NZZ von 1974 immer noch mit Erstaunen und natürlich auch mit kritischem Unterton titelte.[1] Grundlage für den Bauboom war die von 1956–1958 erarbeitete Ortsplanung, die eindrücklich zeigt, wie international diskutierte Konzeptionen des modernen Städtebaus in den Alltag populärer Baukultur übersetzt wurden. Wie viele Aargauer Gemeinden besass auch Spreitenbach in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch nicht einmal eine Bauordnung. Den Anstoss, eine solche auszuarbeiten, lieferten der ab 1953 einsetzende Bau von Einfamilienhäusern weitab vom alten Dorfkern sowie die 1955 bekanntgewordenen Planungen der SBB für die Anlage eines Rangierbahnhofs auf dem Gemeindegebiet von Spreitenbach und Dietikon. Entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung hatte die Kontroverse um ein Hochhaus, mit dessen Bau ein Unternehmerarchitekt namens Mario della Valle 1955 nur wenige Wochen vor Inkrafttreten der ersten Bauordnung begonnen hatte.[2]
Das Thema des Hochhauses war damit in Spreitenbach gesetzt. Der Auftrag, über eine einfache Bauordnung hinaus eine eigentliche Ortsplanung auszuarbeiten, ging in der Folge aber nicht an den bereits angefragten Architekten Hans Marti, der damals gerade im Begriff war, zu einem frühen Hauptexponenten der schweizerischen Raumplanung zu werden. Stattdessen beschloss die Gemeindeversammlung, die günstigere Konkurrenzofferte des bis dahin vollkommen unbekannten jungen Bauzeichners Klaus Scheifele zu berücksichtigen. Scheifeles 1958 erstmals vorgelegter «Richtplan» zeigte als Hauptstück ein vom alten Dorf deutlich abgesetztes und von Hochhäusern geprägtes «Neu-Spreitenbach». Das Thema lag gewissermassen in der Luft: Konkretisierungsversuche für die «neue Stadt» hatte es seit der 1955 erschienenen Programmschrift achtung: die schweiz von Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter einige gegeben, und 1958 war eine «Satellitenstadt für Zürich» bei Spreitenbach sogar Aufgabe eines Entwurfssemesters an der ETH (Abb. 2).[3] Realisiert wurde von «Neu-Spreitenbach» ein Quartier von Wohnhochhäusern, das man nach dem bisherigen Flurnamen als «Langäcker» benannte (Abb. 1). Auf dem daran anschliessenden Areal, das eigentlich für ein umfassendes Gemeinschaftszentrum vorgesehen war, eröffnete hingegen 1970 das erste Shoppingcenter der Schweiz nach amerikanischem Vorbild.[4]
Nachdem Spreitenbach im Zug der Wachstumskritik der 1970er Jahre, in mancher Hinsicht nicht ganz unberechtigt und unerwartet, zur Projektionsfläche für die einsetzende Kritik am Städtebau der Moderne geworden war,[5] erfährt es aus mittlerweile grösserer Distanz eine differenziertere Betrachtung.[6] In den Jahren 2020–2021 haben die Schreibenden als Mitarbeiter:innen der Kantonalen Denkmalpflege Aargau die Aktualisierung des Bauinventars für Spreitenbach bearbeitet. Als ausserordentlich aussagekräftiges Zeugnis für den Bauboom wie auch die städtebaulichen Leitbilder der Hochkonjunktur wurde dabei auch das Hochhausquartier «Langäcker» neu in das Inventar aufgenommen. Auf diesen Arbeiten fusst der aus einem Tagungsbeitrag hervorgegangene, vorliegende Aufsatz.[7]
Das Hochhausquartier Langäcker – ein bemerkenswerter Spezialfall
Die Sichtung der Bauakten hat verdeutlicht, dass es sich beim Langäckerquartier um einen bemerkenswerten Spezialfall handelt. Während andere bekannte Grosssiedlungen der Nachkriegszeit in aller Regel nach dem einheitlichen Entwurf eines einzelnen Architekten oder einer Architektengemeinschaft für eine meist gemeinnützige oder öffentliche Bauherrschaft realisiert wurden, entstand in Spreitenbach eine zusammenhängende Hochhausbebauung durch eine grössere Zahl einzelner Bauherrschaften mit jeweils eigenen Architekten.
Die Basis dafür lieferte der zu Scheifeles Ortsplanung gehörende Richtplan für «Neu-Spreitenbach», der zur besseren Anschauung zusätzlich als Modell ausgearbeitet wurde (Abb. 3 und 4). Das neue Wohnquartier lokalisierte Scheifele auf dem bis dahin freien Feld zwischen dem alten Dorf und dem geplanten Rangierbahnhof der SBB. Dort sah er rechtwinklig zueinander angeordnete Scheibenhochhäuser, einige niedrigere Zeilenbauten und ein Punkthochhaus als zentralen Akzent vor. Ganz im Sinn des modernen Städtebaus stehen die Gebäude als prismatisch klar geschnittene Baukörper möglichst frei im durchgehenden, fliessend gedachten Grünraum. Inspiration holte sich Scheifele dafür zweifellos bei dem nur kurz zuvor von seinem unterlegenen Konkurrenten Marti erarbeiteten und breit wahrgenommenen Projekt für die Überbauung des Zofinger Wiggerfelds.[8] Als Vorbild stand aber mit Bestimmtheit auch hier das international vielbeachtete Hansaviertel der «Interbau» Berlin von 1957 im Hintergrund, dessen Wirkung sich in denselben Jahren auch in der damals begonnen Planung für das Berner Tscharnergut manifestiert.[9]
Ganz anders als bei anderen Hochhausbebauungen der damaligen Zeit war in Spreitenbach entsprechend auch der Mechanismus ihrer Umsetzung. Bei dem vorgesehenen Neubaugebiet handelte es sich nicht etwa um zusammenhängenden Grundbesitz, sondern, wie der Name «Langäcker» andeutet, um Ackerparzellen im Eigentum verschiedener Spreitenbacher Bauern. Diese waren angesichts der Wertsteigerung ihrer Grundstücke natürlich gerne zum Verkauf bereit, doch musste die Ortsplanung deshalb von Anfang an mit einer Neubebauung durch einzelne private Immobiliengesellschaften rechnen. Um sicherzustellen, dass sich diese bei der Realisierung auch an das Richtprojekt hielten, wurde in der Bauordnung ein damals neuer Mechanismus verankert, der heute allgemein als «Arealbonus» bekannt ist: Wer dem Richtprojekt folgte, wurde mit einer höheren Ausnützungsziffer belohnt.
Kaum war die Ortsplanung 1961 rechtskräftig geworden, setzte in Spreitenbach ein regelrechter Bauboom ein (Abb. 5). Die ersten Baugesuche für Hochhäuser gemäss dem Richtplan datieren noch aus demselben Jahr und folgen sich etliche Jahre lang in dichter Reihe. Um 1965 war bereits etwa die Hälfte der Neubauten erstellt oder in Ausführung begriffen. Wohl nicht zufällig war denn auch Spreitenbach der Austragungsort der «Ersten Schweizerischen Fachmesse für Vorfabrikation im Bausektor» im Oktober 1966, bildete doch das rasant in die Höhe schiessende Langäckerquartier einen geradezu idealen Hintergrund.[10]
Bei Beginn der Ölpreiskrise und der darauffolgenden Baukrise 1973 war die Bebauung im Wesentlichen fertiggestellt. Sie folgte weitgehend dem von Scheifele entworfenen Richtplan mit den darin bereits präzise vorgesehenen Gebäudesetzungen und Bauhöhen. Bei den jeweiligen Bauherrschaften handelte es sich um mittelgrosse Immobiliengesellschaften aus der Region. Ähnlich finden sich auch unter den beteiligten Architekten durchwegs regional tätige, in der Architekturgeschichte aber weitgehend unbekannte Namen. Die meisten Hochhäuser wie auch die niedrigeren Wohnblocks wurden dabei als Anlageobjekte mit Mietwohnungen realisiert. Gerade die prominenteren Hochhäuser im Zentrum des Quartiers, wie beispielsweise das Punkthochhaus, gehören allerdings zu den ersten Beispielen für die Realisierung von Stockwerkeigentumswohnungen in der Schweiz, nachdem diese Eigentumsform 1965 überhaupt erst eingeführt worden war (Abb. 6). In der Gestaltung der ausgeführten Bauten manifestiert sich der damalige Vorbildstatus der internationalen Moderne (Abb. 7 und 8). Besonders eindrücklich zeigt sich dies in den vom Dietiker Architekten Georges Künzler realisierten Scheibenhochhäusern «casabella» und «bellavista», die unschwer das Vorbild von Le Corbusiers «unité d’habitation» erkennen lassen.
Der Richtplan für das Langäckerquartier sowie das gebaute Resultat zeigen damit exemplarisch die Popularisierung moderner Städtebaukonzeptionen, indem sich typische Charakteristiken einer (spät-)modernen Grosssiedlung mit einem von ganz eigenen Dynamiken geprägten Umfeld verbanden. Gerade diese eigenwillige Mischung dokumentiert aufs deutlichste den städtebaulichen Alltag der Hochkonjunktur.
Anmerkungen
[1] Ursula Rellstab, Spreitenbach, die halbwüchsige Stadt (mit Fotos von Heinz Baumann), in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Nr. 517, 14./15.12.1974, S. 73–77.
[2] Geschichte der Ortsplanung nach der eingehenden Darstellung bei Andreas Steigmeier, Shopping-Boom: Spreitenbach zwischen 1950 und 2000, in: Andreas Steigmeier, Roman W. Brüschweiler, Anton Kottmann, Spreitenbach, Spreitenbach 2000, S. 259–334 (nachfolgend: Steigmeier 2000), S. 264–283. Diese stützt sich insbesondere auf die im vorliegenden Zusammenhang nur noch punktuell gesichteten Protokolle der Zonenplanungskommission im Archiv der Gemeinde Spreitenbach, Sign. C.02.02.3.1.
[3] Lucius Burckhardt, Max Frisch, Markus Kutter, achtung: die Schweiz. hg. von Markus Ritter, Martin Schmitz, Berlin 2019; vgl. auch Angelus Eisinger, Städte bauen. Städtebau und Stadtentwicklung in der Schweiz 1940–1970, Zürich 2004, S. 161–166; zu den Studentenarbeiten an der ETH: Projekte zu einer Satellitenstadt Zürichs, in: NZZ, Nr. 2082, 16.7.1958, Bl. 5.
[4] Vgl. zur Geschichte des Shoppingcenters Spreitenbach Fabian Furter, Patrick Schoeck-Ritschard, Zwischen Konsumtempel und Dorfplatz. Eine Geschichte des Shoppingcenters in der Schweiz, Baden 2014, S. 38–49 sowie einen im Rahmen des Projekts «Zeitgeschichte Aargau» realisierten Film von Fabian Furter: «12. März 1970: Türöffnung zum Paradies. 50 Jahre Shoppingcenter Spreitenbach»: https://www.zeitgeschichte-aargau.ch/film-und-bild/50-jahre-shoppi-spreitenbach/, Stand 20.01.2024.
[5] Prominent erscheint Spreitenbach beispielsweise in den breit wahrgenommenen Anklageschriften gegen Architektur und Städtebau der Moderne Rolf Keller, Bauen als Umweltzerstörung. Alarmbilder einer Un-Architektur der Gegenwart. Zürich 1973, S. 28–29 u. Walter Baumann, Ohne Halt bis Betonville. Vom Schweizer Bauernhaus zum modernen Wohnsilo. Schweizerisches Jugendschriftenwerk (Hg.), Zürich 1975, Titelseite. Vgl. dazu allg.: Dieter Schnell, Die Architekturkrise der 1970er-Jahre, Baden 2013, S. 46–51, 74, 91–95, Fabian Furter, Testfeld Planung. Raumentwicklung, Städtebau und Architektur, in: Zeitgeschichte Aargau 1950–2000, Baden 2021, S. 56–122 (nachfolgend: Furter 2021), S. 90, 93.
[6] Zur jüngeren Literatur zu Spreitenbach gehören neben Steigmeier 2000 und Furter 2021 auch Goran Galić, Anna Miller, 8957 Spreitenbach, Zürich 2015; Helene Arnet, Bruno Meier, Urs Tremp, Das Limmattal. Hinschauen statt Durchfahren, Zürich 2022, S. 105–106, 174–176.
[7] Vgl. Bauinventar des Kantons Aargau, Hochhausquartier Langäcker, Spreitenbach (INV-SPB914), bearbeitet von Melchior Fischli(https://www.ag.ch/denkmalpflege/suche/detail.aspx?id=137367, Zugriff 20.1.2024). Der dortigen Darstellung folgen, soweit nicht anders angegeben, auch die weiteren Ausführung. Eine ausführlichere Darstellung der beiden Verfasser:innen zum Hochhausquartier Langäcker erscheint in der diesjährigen Ausgabe (2024) von Argovia (Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau).
[8] Vgl. Hans Marti – Pionier der Raumplanung, hg. von Claude Ruedin, Michael Hanak, Zürich 2008, S. 96–99.
[9] Vgl. Anne-Catherine Schröter, Raphael Sollberger, Bümpliz-Bethlehem, Baukultur-Erbe Nr. 3, hg. von Berner Heimatschutz, Bern 2023, S. 38–40, 104–115.
[10] Jean-Pierre Protzen, Erste Schweizerische Fachmesse für Vorfabrikation, in: Das Werk: Architektur und Kunst, Bd. 53 (1966), S. 293; vgl. Sarah M. Schlachetzki, Vom Typenhaus zum «Prefab» im grossen Stil. Architekturgeschichtliche Einordnung des Systembaus, in: System & Serie. Systembau in der Schweiz – Gesichte und Erhaltung hg. von ICOMOS Suisse Arbeitsgruppe System & Serie, Zürich 2022, S. 9–13, hier S. 11.