Ein Land der Kontraste

Gerold Kunz

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, der beim Symposium «Baukulturen der Boomjahre» am 15.06.2023 an der FHNW in Muttenz gehalten wurde. Alle Beiträge finden Sie im Online-Tagungsband.

Die Initiative des Bundesamts für Kultur für eine hohe Baukultur ist vom Glauben geleitet, mit qualitätsvoller Architektur «gut gestaltete Orte zu schaffen, die sich wandelnden gesellschaftlichen Bedürfnissen anpassen, ohne ihre historischen Eigenarten zu verlieren.»[1] Doch angesichts der Klimakrise tritt die baukulturell geprägte Debatte über die Qualität von Städtebau und Architektur zusehends in den Hintergrund. Der Verein Countdown 2030 fordert beispielsweise in seiner 2022 eingereichten Petition den Abriss als Ausnahme und postuliert die konsequente Wiederverwendung von Bauteilen.[2] Im Kanton Basel-Stadt verbietet das Wohnschutzgesetz seit Juni 2022 Abbrüche von Wohnbauten. Ein Diskurs über baukulturelle Qualitäten findet bei diesen Initiativen nicht statt. Diese neuen Perspektiven fordern zum Überdenken der tradierten Positionen auf. Der Fokus auf den Erhalt von Bauten als Denkmäler, deren Wert sich auf baukulturelle Qualitäten stützt, weitet sich aus. Der Imperativ, dass nur ein in den Kontext integriertes Gebäude ein gutes Gebäude ist, steht auf dem Prüfstand.

Haus – die erste Skulptur für den öffentlichen Raum der Künstler Peter Fischli und David Weiss – steht seit 2019 in Oerlikon, unweit des Zentrums.[3] Auf einer Freifläche zwischen Rennbahn und Theater 11 platziert, nimmt das 1987 für eine Ausstellung in Münster geschaffene Objekt verschiedene Bezüge zur Umgebung auf. Mit ihrer funktionalen, wenig ambitionierten Gestaltung verweist Haus auf die zahllosen Zweckbauten der Nachkriegszeit, die als Büro-, Lager- oder Verwaltungsgebäude erstellt wurden oder als Warenhäuser dem Verkauf dienten.

Die Arbeit von Fischli/Weiss lässt uns schmunzeln. Die Darstellung im kleinen Massstab vertreibt den Groll auf die unbedachte Architektur, die zweifelsfrei ihre Herkunft in den Gürteln um die Stadt hat. Zudem treten wir dem Objekt aus einer ungewohnten Perspektive gegenüber. Haus löst keine mit dem Gang durch eines der typischen Gewerbequartiere an den Stadträndern vergleichbare Resignation aus. Die Verkleinerung bewirkt stattdessen eine Verniedlichung und lässt daher eine neue Sicht auf den Gegenstand zu, sofern uns die im Werk von Fischli/Weiss innewohnende offensichtliche Ironie nicht den Blick trübt.

Beitrag zur Stadtforschung

Die Anfänge der Skulptur liegen in den 1980er Jahren. Die Industrieländer hatten die Boomjahre hinter sich. Der Umbau der Städte hatte sichtbare Spuren auch in der Landschaft hinterlassen. Eine mit der Ölkrise sich entfaltende Kulturkrise forderte ein Umdenken im Umgang mit Siedlung und Landschaft. In diesem Kontext entstand die Skulptur. Die von Fischli/Weiss in Haus evozierte Architektur irritierte das Kunstpublikum, dauerte es doch eine Generation, bis die Skulptur einen öffentlichen Standort fand.

Der Kunsthistoriker Stanislaus von Moos bezeichnet die lange Vorgeschichte von Haus als «ein ungewöhnliches Stück vorweggenommener Stadtforschung»[4]. Anonyme Bauten haben im Architekturdiskurs mit der Analogen Architektur zwar seit den 1980er Jahren längst eine Nobilitierung erfahren, aber nicht die Bauten mit dem Aussehen von Haus.[5] Diesen wird oftmals keine architektonische und städtebauliche Qualität zugeschrieben.[6] Worin könnte also der von Stanislaus von Moos vermutete Beitrag von Fischli/Weiss zur Stadtforschung liegen? Kann eine einzelne Skulptur tatsächlich etwas Substanzielles zur Stadtforschung beitragen?

Ärgernis Agglo

Dieser Frage lässt sich nur mit einem erweiterten Blick auf das Werk der beiden Künstler nachgehen. Beiträge zur Stadtforschung sind auch die Fotoserien Airports von 1990 und Siedlungen, Agglomeration von 1992, die beide über Gemeinsamkeiten in der Perspektive und Komposition verfügen. Nach Jahreszeiten geordnet, präsentieren die Künstler in Siedlungen, Agglomeration Bilder typischer Schweizer Stadtrandsiedlungen. In Airports sind es Ansichten von Flugplätzen aus der Perspektive des Gastes. In beiden Arbeiten richten sie den Blick auf künstliche Welten, eingebettet in weiträumige Grün- und Verkehrsanlagen. Es sind uniforme Ansichten; die Anlagen erscheinen aus einem Guss und weisen keine Störungen auf. Die Bilder verkünden eine Utopie, indem sie Alternativwelten zeigen. «Die Agglomerationsbilder von Peter Fischli und David Weiss sind so gemacht, dass wir solche Dinge verstehen lernen»,[7] beschreibt der Verleger Patrick Frey in seiner Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung 1992 die Wirkung der Bilder und definiert Agglomeration als «das Reich der unendlichen Versuche das unrettbar Hässliche […] doch irgendwie noch schöner oder doch wenigstens gut zu machen, oder einfach irgendwie zu retten […]».

Mit dieser pauschalen Einschätzung gab Frey nicht nur die Meinung der Ausstellungsbesuchenden wieder. Die Agglo und mit ihr die typische Agglo-Architektur, wie sie Haus beispielhaft verkörpert, haben in kulturell aufgeschlossenen Kreisen einen schweren Stand. Alexander Mitscherlich beobachtete schon 1965 eine «Bimsblock-Tristesse, die sich um jedes einigermassen stadtnahe Dorf legt».[8] Als Beitrag zur Stadt des 20. Jahrhunderts wird sie nicht anerkannt. Die Neubauten im Aussehen von Haus verkörperten das Fremde, das als Bedrohung wahrgenommen wurde. Der Fokus lag deshalb im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts auf dem Bewahren der vorhandenen Qualitäten. «Die gestaltete Stadt kann Heimat werden, die bloss agglomerierte nicht […]», brachte es Alexander Mitscherlich 1965 auf den Punkt.[9]

Wir unterscheiden bis heute in gute und in schlechte Orte. Doch diese Unterscheidung macht in Zusammenhang mit der Klimakrise kaum mehr Sinn. Der Umgang mit dem Bestand betrifft alle Gebiete – gute oder schlechte – gleichermassen. Bei der Frage der Erhaltung tritt der Aspekt Identität gegenüber jenem des CO2-Fussabdrucks zurück.

Eine Frage der Herkunft

Um zu erfahren, welchen Stellenwert die Siedlungen und Agglomerationen der Nachkriegszeit hatten, lohnt sich der Blick in die Anfänge des Bundesinventars der Ortsbilder nationaler Bedeutung (ISOS), in dem heute über 1200 Ortsbilder verzeichnet sind. Im Unterschied zu den hier besprochenen künstlerischen Arbeiten von Fischli/Weiss handelt es sich um eine grossanlegte, nach wissenschaftlichen Grundsätzen erfasste Bestandesaufnahme der Schweizer Städte und Dörfer, mit der 1973 begonnen wurde.[10] Alle in der Erstausgabe der Siegfriedkarte[11] des späten 19. Jahrhunderts mit mehr als zehn Bauten aufgeführten Siedlungen wurden untersucht und nach einheitlichen Kriterien bewertet. Sie wurden nach Weiler, Dorf, Flecken oder Stadt geordnet und als Ortsbilder von nationaler, regionaler oder lokaler Bedeutung qualifiziert. Die Hälfte der Ortsbilder nationaler Bedeutung sind Dörfer. Die Agglomerationen, sie wurden als verstädterte Dörfer erfasst, gingen als «Orte ohne besondere Lagequalitäten»[12] leer aus. Hinter dieser vordergründig sachlichen Begrifflichkeit schwingt eine negative Note mit. Kein Agglo-Ortsbild wurde ins Inventar der nationalen Ortsbilder aufgenommen, was auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit der baulichen Entwicklung in den Agglomerationen zurückzuführen ist.

Im Rückblick ist nachvollziehbar, weshalb nicht nur die Agglo-Ortsbilder, sondern auch ihre Architektur mit dem Inventar abgestraft wurde. In den bis 2000 publizierten ISOS-Ortsbildbänden wurde dafür der Begriff Störfaktorverwendet. Einfamilienhäuser, Wohnblocks, Geschäftshäuser, Lager- und Verkaufsgebäude aber auch Um- und Anbauten: das ganze Bautenarsenal einer Agglo stand den ISOS-Zielen entgegen. Anlagen, Gebäude und Baugruppen wurden als Störfaktoren identifiziert, wenn sie dem für das Quartier formulierten Schutzziel entgegenwirken. Mit dieser negativen Qualifikation sollten die wertvollen Ortsbilder von den Bauten mit Herkunft Agglo verschont bleiben.

Herkunft eines Bautyps untersuchen

Im ISOS-Band zum Kanton Zug wird der Begriff Störfaktor und dessen Anwendung an ausgewählten Beispielen erläutert.[13] Im ISOS sind beispielsweise Neubauten als störend ausgewiesen, wenn sie «formale Bestandteile der traditionellen Architektur in oberflächlicher Art übernehmen.» Das äusserliche Anpassen sei oft «nur eine Entschuldigung, um die lokale Bautradition oder die Herkunft eines Bautyps nicht näher untersuchen zu müssen.» Hingegen gilt: «Wenn ein Bau sorgfältig und sensibel auf die bestehende Siedlung und Landschaft reagiert, wird er nicht stören, auch wenn er in neuen Materialien und neuen Bauformen auftritt.»

Das ausgeklügelte System der Ortsbilderfassung leistet bis heute wertvolle Dienste im Umgang mit schützenswerten Ortsbildern. Dennoch darf der Zeitgeist der flächendeckenden Ortsbild-Erfassung nicht unbeachtet bleiben. Die Bewertungen erfolgten aus der Perspektive des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Eine Auseinandersetzung mit den Störfaktoren von damals bietet somit die Chance, den kulturellen Kontext der Entstehung des ISOS zu reflektieren. Für die Praxis bedeutet dies, dass alle im ISOS als Störfaktoren aufgeführten Gebäude eine Neubewertung erfordern, sobald sie baulich verändert werden sollen.[14]

Störende Objekte

Die störenden Objekte der Luzerner Innenstadt hat die Luzerner Fotografien Theres Bütler 2004 dokumentiert (Abb. 1–4).[15] Es sind Wohn- und Geschäftshäuser, Parkhäuser und Aufstockungen aus der Nachkriegszeit, denen im ISOS das Prädikat störend zugeschrieben wurde. Die Dokumentation umfasst charakteristische Zeitzeugen, die erstaunlicherweise resistent gegenüber den Entwicklungen sind und sich im Stadtbild selbstbewusst behaupten. Sie tragen zu den wohltuenden und für ein lebendiges Stadtbild unverzichtbaren Kontrasten bei. Der Störfaktor hat sich bei einiger dieser Bauten längst verflüchtigt. An ihnen lässt sich unser heutiges Verständnis von Störung überprüfen.

Der Umgang mit den störenden Objekten bedarf nicht nur einer kulturellen Aufarbeitung. Die hoch gesteckten Klimaziele verlangen nach einer vertieften Auseinandersetzung mit dem gesamten Baubestand. Die Kategorie der störenden Objekte, die im ISOS sinnbildlich für das unliebsame Eindringen der Agglo-Baukultur der 1960er und 1970er Jahre in die historische Stadt stehen, so ist auch das Fehlen der Agglo-Ortsbilder im ISOS zu überdenken. Nach Vorbild der ISOS-Methode ist auch ein städtebaulicher Werkzeugkasten für die Ortsbilder der Agglomerationen zu entwickeln.

Mit Recht fordert der Verein Countdown 2030 ein Umdenken auch der Wirkungsmacht der Denkmalpflege. Noch immer gilt für die von der Denkmalpflege als nicht schutzwürdig bezeichneten Gebäude ein behördlicher Abriss-Freipass. Diese Haltung lässt sich erst stoppen, wenn es gelingt, ausserhalb des denkmalpflegerischen Kontextes neue Kriterien für die Bewertung des Baubestands zu gewinnen. Die Auseinandersetzung mit den ISOS-Störfaktoren hilft dabei. Ohne Überwindung der seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unsere Wahrnehmung bestimmenden Vorbehalte gegenüber den Siedlungen und Agglomerationen, in Fischli/Weiss’ Skulptur Haus und in den ISOS-Störfaktoren anschaulich dargelegt, lässt sich eine öffentliche Werte-Diskussion kaum führen. Kontraste sind in unseren Städten und Orten zuzulassen. Die Frage des baukulturellen Werts wird angesichts der Klimakrise eine untergeordnete Rolle spielen müssen.

Anmerkungen

[1] Bundesamt für Kultur: Davos Qualitätssystem für Baukultur – Acht Kriterien für eine hohe Baukultur. Bern 2021.

[2] https://countdown2030.ch/wp-content/uploads/Petition_DE.pdf

[3] Peter Fischli David Weiss: Haus. Köln 2019.

[4] Ebd.

[5] Der im angelsächsischen Sprachraum verwendete Begriff des urban vernaculars ist mit der im Deutschen verwendeten Bezeichnung Anonyme Architektur kaum vergleichbar. Diese bezieht sich oft auf die 1964 erschienene Publikation Architecture without Architects von Bernard Rudofsky (1905-1988), die ein Bauen ohne professionelle Unterstützung meint. Der 2010 von Benedikt Boucsein (*1979) lancierte Begriff der Grauen Architektur, verwendet als Synonym für Nachkriegsarchitektur in Westdeutschland, hat sich im Fachdiskurs noch nicht durchgesetzt.

[6] Zu erinnern ist hier an Rolf Kellers populäre Streitschrift Bauen als Umweltzerstörung, mit der sich der Architekt 1973 gegen die fortschreitende Urbanisierung der Schweiz auflehnte. Oder Fredi M. Murers Film Grauzone von 1979, der die Vereinsamung in den Stadtrandquartieren thematisierte.

[7] Rede des Verlegers Patrick Frey 1992 anlässlich der Vernissage in der Galerie Walcheturm in Zürich. Airports und Siedlungen, Agglomeration sind beide in der Edition Patrick Frey erschienen.

[8] Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main, 1965, S. 13.

[9] Ebd, S. 15.

[10] Der Auftrag für die Bestandesaufnahme wurde bei der Inventarisierung ab 1973 zeitlich eingegrenzt: Bebauungen wurden bis 1945 und Siedlungen in den Städten bis 1960 bewertet. Seitdem wurde das ISOS-Inventar zweimal überarbeitet, wobei die zweite Revision noch nicht abgeschlossen ist.

[11] Das erste amtliche Kartenwerk, das die Schweiz landesweit abdeckt, ist die Topographische Karte der Schweiz 1:100‘000 (Dufourkarte). Ihre Erstausgabe wurde zwischen 1845 und 1865 publiziert. In der Siegfriedkarte wird das Terrain mit Höhenlinien dargestellt. Siehe: https://www.swisstopo.admin.ch/de/wissen-fakten/geschichte-sammlungen/historische-kartenwerke/dufourkarte.html; eingesehen am 16.4.2023.

[12] So beispielsweise die Qualifikation im ISOS-Inventarblatt zu Kriens, 1981.

[13] ISOS – Kanton Zug: Ärgernis Störfaktor. Der Begriff «Störfaktor» und seine Verwendung. S. 74-84, Bern 2000. in der aktuellen Revision des ISOS (laufend, ab 2018) ist nicht mehr die Rede von Störfaktoren. Viele Bauten der Nachkriegszeit wurden im Zuge der Bearbeitung neu ins ISOS aufgenommen, z.B. Les Avenchets in Genf.

[14] Ein prominentes störendes Objekt in der Stadt Luzern war das Geschäftshaus am Kapellplatz, 1959 von Friedrich E. Hodel erstellt und 2020 durch einen Neubau von Joos und Mathys ersetzt. Der Ersatzneubau, hervorgegangen aus einem Studienauftrag, wurde vom Architekten Andreas Gervasi und Denkmalpfleger Peter Omachen kontrovers diskutiert. Siehe: Karton – Architektur im Alltag der Zentralschweiz, Nummer 51, Mai 2021, S. 11-14.

[15] Als erfahrene Denkmalpflege-Fotografin wurde Bütler speziell für diese Aufgabe ausgesucht. Siehe: Gerold Kunz, Stadt Luzern (Hsg.): volksnah, anonym, heimatverbunden – Annäherung an die Kulturregion Luzern, Quart Verlag, Luzern 2004.

1 Luzern, Geschäftshaus Kapellplatz, Foto Theres Bütler (2004).
3 Luzern, Grabenpost, Foto Theres Bütler (2004).
2 Luzern, Geschäftshaus Konkordia, Foto Theres Bütler (2004).
4 Luzern, Parkhaus Kesselturm, Foto Theres Bütler (2004).