Ein Ausblick auf die Baukultur 1975–2000
Regula Steinmann
Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, der beim Symposium «Baukulturen der Boomjahre» am 15.06.2023 an der FHNW in Muttenz gehalten wurde. Alle Beiträge finden Sie im Online-Tagungsband.
Die Auseinandersetzung mit der Baukultur aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat bisher noch nicht vertieft stattgefunden. Sowohl die Wissenschaft als auch die Denkmalpflege beschäftigen sich erst am Rand mit den Bauten der Periode 1975–2000. Das mag aus der Perspektive des benötigten zeitlichen Abstands für die Beurteilung einer Epoche richtig sein. Doch die Realität sieht anders aus: Unter den Vorzeichen von Klimakrise, energetischer Ertüchtigung, Innenverdichtung und Anlagenotstand steht der gesamte Baubestand aktuell stark unter Druck. Die zwischen 1975 und 2000 entstandenen Bauwerke drohen so zu verschwinden, noch bevor ihr Wert überhaupt erkannt werden konnte. Mit der Kampagne «Baukultur 1975–2000» macht der Schweizer Heimatschutz auf diese nächste Generation von Baudenkmälern aufmerksam.
Die Schweizer Architektur zog in der Zeit zwischen 1975 und 2000 ausserordentliche, auch internationale Aufmerksamkeit auf sich. Schweizer Star-Architekten wie Peter Zumthor, Mario Botta und Herzog & de Meuron gründeten ihre Büros in den 1970er Jahren und lancierten in den Folgejahren ihre globalen Karrieren. Die weltbekannten Namen bilden nur die Spitze einer vielfältigen und qualitätsvollen Baukulturproduktion in der Schweiz. Auch das anonymere architektonische Schaffen wies durch eine hohe Sorgfalt, grossen Material- und Detailreichtum und einen unbändigen Gestaltungswillen schweizweit aussergewöhnlich hohe Qualitäten auf. Die Landschaftsarchitektur fand in den 1970er Jahren durch neue Studienangebote, aufkommende ökologische Anliegen und die Hinwendung zur Landschaftsplanung zu einem neuen beruflichen Selbstverständnis. Gestaltung, Ästhetik und die Einpassung in die Landschaft wurden zu neuen Themen in der Ingenieurbaukunst, was die Disziplinen näher zusammenrücken liess. Allen gemeinsam war das Streben nach Qualität.
Das Bauen im historischen und städtebaulichen Kontext wurde zum Gebot der Stunde. Die Altstädte wurden als wertvoller Lebensraum wiederentdeckt und historische Zitate als Stilmittel spielerisch eingesetzt. Ökologische und soziale Fragen rückten vermehrt in den Fokus der Planungen. Der Verkehr wurde aus den Zentren verbannt und neue Autobahnteilstücke verliefen vermehrt unterirdisch. Dort, wo deren Erstellung im Tagbau tiefe Wunden in der Landschaft zurückliess, entstanden in der Folge grüne Freiräume. Der Bau von Bildungsinstituten verlagerte sich in das Segment der Oberstufen, nachdem der Bedarf an Primarschulen und Kindergärten durch den Bauboom der vorangegangenen Jahren weitestgehend gedeckt war. Aufgrund der Dezentralisierung der Bundesverwaltung entstanden grosse Verwaltungsbauten, auch ausserhalb der Hauptstadt. Zahlreiche Museen erweiterten ihr Angebot durch Erweiterungen oder Neubauten – manche davon wurden seither zu wahren Pilgerstätten. Der preisgünstige und soziale Wohnungsbau erlebte einen Wandel: Die zukünftigen Bewohnenden sprachen bei der Planung mit und legten bei der Erstellung nicht selten selbst Hand an, um die Gemeinschaft zu fördern, aber auch um Geld zu sparen.
Heute ist die Baubranche für mehr als 80% der Abfälle und für 20% des CO2-Ausstosses in der Schweiz verantwortlich. Der Abriss-Atlas des Vereins Countdown 2030 visualisiert die Abbrüche eindrücklich.[1] Mit dem jährlich in der Schweiz anfallenden Bauschutt könnte eine 20 Meter hohe und 1 Meter breite Mauer vom Boden- bis an den Genfersee gebaut werden. Es ist also dringend angezeigt, einen neuen Umgang mit dem Bestand zu finden. Dafür braucht es Grundlagen, Expertise und Verantwortung. Die Fachleute im Umgang mit dem Bestand sind insbesondere auch die Denkmalpflegefachstellen. Doch genau jetzt, wo diese Expertise dringend gebraucht wird, wird deren Einfluss zunehmend eingeschränkt. Es ist deshalb wichtig, dass auch andere Entscheidungsträger wie Architekt:innen und Bauverwaltungen sensibilisiert werden im Umgang mit der jüngeren Baukultur.
Die Sensibilisierungskampagne des Schweizer Heimatschutzes baut auf drei Elementen auf. Nachdem im Herbst 2022 der Instagram-Kanal archimillennials erfolgreich lanciert wurde, konnte im Juli 2023 mit der Kampagnenplattform das zweite digitale Element aufgeschaltet werden. Sie vereint rund 100 Bauwerke aus der ganzen Schweiz. Die Objekte aus den Bereichen Architektur, Landschaftsarchitektur und Ingenieurwesen werden mit aktuellen Fotografien und kurzen Texten beleuchtet. Thementexte geben zudem einen Anhaltspunkt zum politischen und gesellschaftlichen Kontext der Zeit. Als Höhepunkt der Kampagne erschien Ende November 2023 die Publikation Die schönsten Bauten 1975–2000, welche die Objektauswahl weiter eingrenzt und 50 Bauwerke näher vorstellt. Begleitet wurde die Kampagne durch zwei Themenhefte der Verbandszeitschrift Heimatschutz/Patrimoine. Eine Kooperation mit der Zeitschrift Hochparterre, die einen eigenen Themenschwerpunkt «Baukultur 1975–2000» auf Social Media und in der gedruckten Zeitschrift lanciert hat, ermöglichte es, die Themen an einen erweiterten Kreis der Zielgruppe heranzutragen.
Die Kampagne hat nicht den Anspruch, einen umfassenden oder gar abschliessenden Überblick zu vermitteln. Vielmehr soll sie zum Hingehen und Anschauen einladen und Fachleute und ein interessiertes Publikum motivieren, sich vertiefter mit den Qualitäten der Baukultur der Jahre vor dem Millennium auseinanderzusetzen.
Link zur Kampagnen-Plattform: heimatschutz.ch/1975-2000
Link zum Instagram-Profil: @archimillennials
Anmerkungen
[1] CORRECTIV CrowdNewsroom gGmbH, Countdown 2030, Leon Faust, Abriss-Atlas (www.abriss-atlas.ch, 29.02.2024).