Baukulturen in der Schweiz 1945–1975

Christina Haas, Torsten Korte, Anne-Catherine Schröter

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, der beim Symposium «Baukulturen der Boomjahre» am 15.06.2023 an der FHNW in Muttenz gehalten wurde. Alle Beiträge finden Sie im Online-Tagungsband.

Die Zeit zwischen 1945 und 1975 ist durch einen enormen Bauboom charakterisiert, der am Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Anfang nahm und bis zur Ölpreiskrise anhielt und die gebaute Umwelt der Schweiz nachhaltig veränderte. Rund 30 Prozent des heutigen Baubestandes der Schweiz stammen aus diesen Jahrzehnten, die auch «Trente Glorieuses» genannt werden und durch technischen Fortschritt, zunehmenden Wohlstand für viele und einen optimistischen Zukunftsglauben geprägt waren. Gleichzeitig riefen die tiefgreifenden baulichen Veränderungen der Städte und Landschaften bei grossen Teilen der Bevölkerung Unbehagen und Ablehnung hervor. Diese Gefühle und Haltungen äusserten sich besonders vehement in Rolf Kellers bekannter Publikation «Bauen als Umweltzerstörung», deren emotional aufgeladene Inszenierung einer «zubetonierten Schweiz» bis heute das Bild der Baukultur jener Boomjahre mitbestimmt.[1]

Diese Spannung zwischen umfassender Modernisierungsbegeisterung und Unbehagen an deren Ausmassen und Ästhetik ist bezeichnend für die Baukultur der Nachkriegszeit. Das Forschungsprojekt «Baukulturen in der Schweiz 1945–1975. Kontexte – Strategien – Perspektiven», das vom Schweizer Nationalfonds (SNF) gefördert wird und am Institut für Architektur der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) angesiedelt ist, nimmt dieses Spannungsfeld zum Anlass für eine umfassende Untersuchung mit dem Ziel, den tiefgreifenden Wandel der gebauten Umwelt jener Zeit und die diesen begleitende Diskurse zu analysieren. Viele Bauten aus der Nachkriegszeit, insbesondere solche von weniger bekannten Architekt:innen, erfahren heute wenig Wertschätzung, werden aufgrund ästhetischer Ablehnung oder ökonomischer Interessen infrage gestellt und sind daher vom Abbruch bedroht. Die Logik der Boomjahre setzt sich fort: Wurden in den 1950er bis 1970er Jahren Bauten der Zeit um 1900 abgerissen und mit Neubauten ersetzt, ereilt heute die Nachkriegsmoderne ein ähnliches Schicksal. Das spätestens seit den 1970ern aufkommende Unbehagen an diesen Bauten hält an und wird dereinst wohl auch die heute entstehenden neuen Architekturen betreffen.

Das Forschungsprojekt analysiert eine repräsentative Auswahl von Regionen und Städten aus verschiedenen Teilen der Schweiz und gibt mittels dieser Ausschnitte aus der gebauten Umwelt der Schweiz einen Überblick über die massgeblichen Aspekte der Baukultur der Nachkriegszeit. Wesentlich sind hierbei die grosse Masse an Gebautem sowie die Massstabssprünge in dessen Dimensionen. Die raschen Veränderungen betrafen das Aussehen der Landschaften, indem beispielsweise zuvor ländlich geprägte Gegenden urbanisiert wurden und Strassen oder andere Infrastrukturbauten die gebaute Umwelt in grossem Massstab umgestalteten. Ebenso tiefgreifend änderte sich das Leben der Menschen in diesen neugeschaffenen Umwelten: der Wandel des Alltags – des Wohnens, Arbeitens, Einkaufens und der Geselligkeit – ist nur im Zusammenhang mit dem Wandel der Baukultur in jenen Jahren zu verstehen.

Neben dem Bauboom und den dadurch hervorgerufenen Landschaftsveränderungen spielte auch die Gestaltung des Gebauten eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung und ästhetische Beurteilung der Baukultur jener Jahre. Die Gestaltungsformen waren stark durch die Industrialisierung des Bauens und die Verwendung von Materialien wie Beton geprägt. Bauteile wurden vorfabriziert und selbst Wohnüberbauungen wurden seriell nach Bausystemen gefertigt. Ideen des Pragmatismus und Funktionalismus sowie Ansprüche an Rationalisierung und Wirtschaftlichkeit waren bestimmende Aspekte des Bauens der Nachkriegszeit, die sich nicht zuletzt auch an den grossen Netzwerken des Verkehrs, der Energie und der Kommunikation zeigen und deren zugehörige Bauwerke auf verschiedenen Massstabsebenen analysiert werden. Der massive Ausbau dieser Netzwerke mit den dazugehörigen, ingenieurstechnisch geprägten Bauten legte nach dem Zweiten Weltkrieg den Grundstein für eine global vernetzte Gesellschaft und formte neue Landschaften. Der anfänglichen Euphorie über die Möglichkeiten, welche diese neuen, grossen Infrastrukturen boten, stand bald schon ein Gefühl des Kontrollverlusts in Anbetracht der durch sie entstandenen Abhängigkeiten gegenüber.

Baukultur als Netzwerk

Mit dem Begriff der Baukultur ist ein umfassendes Verständnis der gebauten Umwelt, des Bauens als Prozess und der Diskurse um das Bauen als etwas Zusammenhängendes verbunden. Das Gebaute – das materielle Ergebnis der Baukultur – ist sehr vielfältig und reicht von dem, was gemeinhin in der Architekturgeschichtsschreibung als «Meisterwerk» aufgefasst wird, über Denkmale bis hin zu anonymer Alltagsarchitektur, Infrastruktur- und Ingenieurbauten und schliesst ebenso ungebaute Visionen und nicht realisierte Projekte mit ein. Einzelne Gebäude werden in dieser Perspektive immer in ihrem grösseren und städtebaulichen Zusammenhang betrachtet, sowie im Kontext der vielfältigen Prozesse ihres Entstehens – zum Beispiel das Entwerfen, Planen, die logistischen und handwerklichen Vorgänge des Bauens –, ihrer Nutzung sowie der Diskurse rund um das Bauen. Zu letzterem gehören das Sprechen und Nachdenken über Architektur und gebaute Umwelt, die Ideen und Theorien – sowohl in akademischen Kontexten als auch das alltägliche Sprechen über Bauwerke –, und auch die visuelle mediale Darstellung von Architektur.

Es geht somit um das kulturelle Handeln rund um das Gebaute im umfassenden Sinn. Dabei gehen die Bauwerke und die gebaute Umwelt – also die materiellen Aspekte der Baukultur – mit den immateriellen kulturellen Vorgängen ein komplexes gegenseitiges Wechselverhältnis ein. Die gebaute Umwelt der Schweiz ist somit als ein grosses, zusammenhängendes Netzwerk zu verstehen. Zu den methodischen Grundlagen der Untersuchungen wird die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours herangezogen, mithilfe derer die besondere Wirkmacht der umfassenden baulichen Veränderungen sowie deren baukulturelle Dimensionen gefasst werden können.[2] Denn Netzwerke bestehen grundsätzlich aus Entitäten und Verbindungen zwischen Entitäten – anders gesagt aus Akteur:innen und Beziehungen zwischen Akteur:innen. Im Netzwerk der Baukultur nehmen sowohl Bauten als auch Menschen einen aktiven Part als Akteur:innen ein, und die Beziehungen sind sowohl materieller als auch immaterieller Natur, es finden sich gebaute Beziehungen in Form von Strassen oder Telefonleitungen sowie soziale Beziehungen in Institutionen oder Kollaborationen.

Es ist selbstverständlich unmöglich, dieses riesige komplizierte Netzwerk der Schweizer Baukultur als Ganzes zu überblicken, zu beschreiben und wissenschaftlich zu bearbeiten. Daher werden exemplarische Ausschnitte aus diesem Netzwerk betrachtet – Ausschnitte, die wiederum einzelne grössere und kleinere Netzwerke bilden.

Ziele und Methoden

Im Forschungsprojekt «Baukulturen in der Schweiz 1945–1975» sollen Prozesse und Dynamiken der Entstehung der gebauten Umwelt der Nachkriegszeit und ihrer Wahrnehmung nachvollzogen werden. Dafür wird ein holistischer Blick auf Schweizer Landschaften, die Architektur und das Bauen dieser Zeit geworfen. Die gebaute Umwelt wird auf einem grossen Massstab und aus landschaftlicher und städtebaulicher Perspektive betrachtet, wodurch der Fokus auf den grösseren Zusammenhängen, den räumlichen Veränderungen und weniger auf der Nahsicht auf Einzelbauten liegt.

Dabei wird ein möglichst breites Spektrum der in der Nachkriegszeit relevanten Bautypen betrachtet, die den grundlegenden zentralen gesellschaftlichen Bedürfnissen, wie Wohnen, Arbeit, Erholung, Verkehr, Kommunikation und Energiegewinnung dienen. Hierbei stellt die grosse Masse des Gebauten einen Forschungsgegenstand dar, und entsprechend werden weniger bekannte Bauten und Projekte einer alltäglichen und bisweilen anonymen Baukultur betrachtet. Diese stellen aus der Perspektive eines architekturhistorischen Kanons Bauwerke der «Zweiten Reihe» dar und werden im Forschungsprojekt erstmals aus einem ganzheitlichen und schweizweiten komparatistischen Blick untersucht.

Das Ziel der Forschung ist es, zu einem besseren Verständnis des gebauten Raums beizutragen, der ein Ergebnis des Baubooms und der Baukultur der Nachkriegszeit ist. Auf diese Weise sieht sich das Forschungsprojekt auch als Beitrag zu aktuellen baukulturellen Diskursen, die eine ökologische und kulturelle Kritik an der Praxis des Ersatzneubaus üben, die weitgehend das Bauerbe der Nachkriegszeit betrifft. Ein vertieftes historisches Wissen über die Baukultur jener Jahre kann grössere ästhetische Wertschätzung und letztlich die Erhaltung dieser Bauten unterstützen.

Anmerkungen

[1] Rolf Keller, Bauen als Umweltzerstörung, Alarmbilder einer Unarchitektur der Gegenwart, 1973. Kellers Publikation steht in einer Reihe mit zahlreichen weiteren, z. T. weniger bekannten Beispielen, vgl.: Wolf Jobst Siedler, Gina Angress, Elisabeth Niggemeyer, Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, 1964; Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Anstiftung zum Unfrieden, 1969; Michel Ragon, Les erreurs monumentales, 1971; Jörg Müller, Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder, 1973; Jost Krippendorf, Die Landschaftsfresser, 1975; Erich Schwabe, Verwandelte Schweiz, verschandelte Schweiz? Hundert Beispiele aus dem 19. Und 20. Jahrhundert, 1975. Ebenfalls nennenswert in diesem Zusammenhang sind Ereignisse wie der Erlass des Natur- und Heimatschutzgesetzes (1966), der Beginn des Inventars schützenswerter Ortsbilder von nationaler Bedeutung (ISOS, 1972), der zeitgleiche Paradigmenwechsel hin zur integrierten Denkmalpflege, die Naturschutzbewegung, das Europäische Denkmalschutzjahr «Eine Zukunft für unsere Vergangenheit» (1975).

[2] Vgl. z. B. Bruno Latour, Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Milton Keynes 1987; Ders., Reassembling The Social, Oxford University Press 2005. Zur Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie auf Architektur siehe Albena Yaneva, Latour for Architects, London/New York 2022, dort bes. S. 63–78.

 

1 Die «Unarchitektur» der Schweiz aus den Augen Rolf Kellers (aus: Bauen als Umweltzerstörung, S. 26–27).
4 Das Schweizer Netzwerk der Vorfabrikation besteht aus Systemen der Vorfabrikation, daran beteiligten Architekt:innen, Unternehmen, Herstellern, aus einzelnen Bauprojekten sowie dem Transport von Materialien und dem Wissenstransfer (Grafik: Team Baukulturen der Schweiz).
2 Links Karte von Lancy bei Genf von 1945, rechts von 1976. In rund 30 Jahren ist ein neuer Stadtteil um einen Güterbahnhof herum auf ehemals grüner Wiese entstanden (map.geo.admin.ch).
5 Beton und Vorfabrikation prägen das Bauen in der Nachkriegszeit. Ebenso relevant sind die grossen Infrastrukturbauten des Verkehrs, der Energie und der Kommunikation, die schweizweit das Landschaftsbild prägen (Collage, Fotos ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv).
3 Baukultur ist vielfältig (Grafik: Team Baukulturen der Schweiz).
6 Das Limmattal in einem Luftbild von 1970: Die Betrachtung auf einem grossen Massstab erlaubt es, Zusammenhänge zwischen den räumlichen Auswirkungen von Autobahnen, Shoppingcentern und Wohnüberbauungen herzustellen (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv).