«Back to the Future!» Vergleichende Beobachtungen zur Schweizer Wohnarchitektur in der Zeit vor und nach der Ölkrise

Lukas Zurfluh

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, der beim Symposium «Baukulturen der Boomjahre» am 15.06.2023 an der FHNW in Muttenz gehalten wurde. Alle Beiträge finden Sie im Online-Tagungsband.

Dieser Beitrag ist das Resultat einer ersten Exploration für ein geplantes Forschungsprojekt. Dessen Untersuchungsgegenstand sind grundsätzlich alle Gattungen der Wohnarchitektur aus der Zeit zwischen der Ölpreiskrise und dem Mauerfall – vom Einfamilienhaus, über die (Reihenhaus-)Siedlung und das Mehrfamilienhaus bis hin zu den nach der Ölpreiskrise immer spärlicher werdenden Grossüberbauungen. Die grundsätzliche Frage der Untersuchung zielt jedoch ab auf die Analyse und Beschreibung der Transformation des Berufsbildes und des disziplinären Selbstverständnisses der Architekti:nnen – das Streben nach einer Überwindung des Paradigmas der Moderne und nach einer Erneuerung der Disziplin der Architektur. In der Zeit nach der Ölpreiskrise war das Selbstverständnis der Architekt:innen zunehmend durch die Ablehnung einer reinen Dienstleistungsfunktion im rationalistisch und funktionalistisch geprägten «Bauwirtschafts»-Wohnungsbau und den Wunsch nach einer Wiedergeburt als autonome und ganzheitliche, kulturell und gesellschaftlich verantwortliche Disziplin geprägt. Die Ölpreiskrise als Versorgungs-, Wachstums- und schliesslich auch Umweltkrise verstehe ich dabei nicht als Bruch, sondern als ein Ereignis, dass die Zeit davor und die Zeit danach durch die Notwendigkeit zur Reaktion stärker miteinander verbindet, als es eine kontinuierliche und ungestörte Entwicklung je hätte tun können.

Die Welt in der Krise – Die Architektur in der Krise?

Auch die Architektur steckte zu Beginn der 1970er Jahre in einer Krise. Schon länger war von verschiedenen, Exponent:innen Kritik am Rationalismus der modernen Architektur, an der Trennung der Stadt in funktionsgetrennte Bereiche, am Bauwirtschaftsfunktionalismus und damit auch am Berufsbild des Architekten, der Architektin als Dienstleister:in in diesem Prozess geäussert worden. Wenig überraschend steckte Ende der 1960er, anfangs der 1970er Jahre auch die Architekturausbildung in der Krise. Exemplarisch dafür war die Situation an der ETH Zürich, wo die Studierenden und ihre Vertreter:innen Mitbestimmung bei der Reform des Lehrplanes forderten. Nach der Ablehnung des neuen ETH-Gesetzes an der Urne stellte der Bundesrat im Oktober 1969 eine «Experimentierphase» in Aussicht, welche neue Unterrichtsformen ermöglichen sollte. Im Zuge dieses Prozesses wurden auf das Wintersemester 1970/1971 fünf Entwurfs-Gastdozenten an die ETH berufen: Lucius Burckhardt und Rolf Gutmann zusammen für das Lehrcanapé, sowie Heinrich Zinn, Hans-Otto Schulte und Jörn Janssen. Schon im Sommer 1969 hatte sich Paul Hofer – Professor für Geschichte des Städtebaus und allgemeine Denkmalpflege am 1967 neu gegründeten Institut gta – der Diskussion mit den Studierenden gestellt und in der Folge mit der «École tentaculaire» ein offizielles Reformprojekt entworfen und initiiert. Ziel seiner Idee war die Ausbildung der Studierenden zu vollwertigen, unabhängigen, engagierten und kritischen Architekt:innen – und eigentlich eine «kritische Hochschule».

Die Krise der Architektur wurde jedoch schon damals nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance wahrgenommen. In dieser Auffassung begründet sich auch das Verständnis der Krise als Impuls zum Wandel und zur Transformation und nicht als Bruch. In der Fachpresse wurde zu Beginn der 1970er Jahre verbreitet der Abschied vom modernistischen Paradigma des rational-funktionalistischen Planens und Bauens gefordert. Dabei wurde die Krise nicht als Untergang der Welt gesehen, sondern eigentlich immer auch als Chance begriffen, neue Entwurfs-, Planungs- und Ausführungskonzepte auszuprobieren und diesen zum Durchbruch zu verhelfen. Schlussendlich wurde die Krise als Möglichkeit gesehen, die Architektur aus ihrer Einschränkung auf eine Dienstleistungsfunktion innerhalb des Bauwirtschaftsbetriebs zu befreien und sie wieder als autonome, ganzheitlich für die Kulturleistung des Bauens verantwortliche Disziplin zu etablieren.

Zwei Fallstudien aus der Zeit vor und nach der Ölkrise

Exemplarisch lässt sich dieser Paradigmenwechsel anhand des Vergleichs von zwei relativ intuitiv gewählten Beispielen der Schweizer Wohnarchitektur aus der Zeit vor und nach der Ölpreiskrise zeigen: die Reiheneinfamilienhäuser und Flamatt II (1960–1961) von Atelier 5 und das Wohnhaus Hofstatt (1978–1982) von der Architektengemeinschaft Benno Fosco, Jacqueline Fosco-Oppenheim und Klaus Vogt. Bei beiden Beispielen handelt es ich um einen Baukörper mit wenigen Reiheneinfamilienhaus-Einheiten. In Flamatt wurden die vier Einheiten vom Architekten Rolf Hesterberg und seiner Frau errichtet, sie befinden sich heute immer noch im Besitz der Erbengemeinschaft. Die Reihenhäuser in Kappel wurden durch eine Gemeinschaft von sieben individuellen Bauherrschaften gebaut. Die Reihenhäuser in Flamatt liegen etwas ausserhalb des Siedlungsgebiets zwischen dem Fluss Sense und dem Kanal einer schon bestehenden Mühlenanlage, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Eisenbahnlinie und der Autobahn. Die Reihenhäuser der Hofstatt befinden sich hingegen im westlich von Olten gelegenen Bauerndorf Kappel, inmitten von grossen, alten Bauernhäusern und Scheunen, die von typischen Nutzgärten umgeben sind.

Typologisch ist die Flamatt II ein freistehender Solitär nach dem modernistischen Vorbild der corbusianischen Maison Dom-Ino. Ein freies Erdgeschoss, ein kubischer Baukörper auf (rechteckigen!) Pilotis und ein gestuftes Flachdach mit Dachterrasse zeichnen den Bau aus. Auch die Hofstatt ist ein freistehender Solitär, jedoch nach dem Vorbild des mittelländischen Bauernhofes. Der rechteckige Baukörper steht fest auf dem Boden, ein hohes und tief heruntergezogenes Walmdach prägt ihn. Strukturell ist die Flamatt ein Schottenbau in Sichtbeton mit strukturellen, horizontalen Öffnungen und Lochfenstern. Die Hofstatt hingegen ist ein Massivbau in Sichtmauerwerk mit vertikalen Öffnungen und Lochfenstern. Der Dachstuhl der Hofstatt ist eine Holzkonstruktion mit Ziegeldach. Im Bereich der Tenne wird mit Schleuderbetonstützen und einer verzinkten Stahlkonstruktion ein bäuerlicher «Hochstudbau» imitiert.

Die Flamatt II besteht aus vier Einheiten: drei identischen 4.5-Zimmer-Maisonettewohnungen und einer 2-Zimmer-Maisonettewohnung mit Atelier und Dachterrasse. Die Hofstatt ist ein Zusammenschluss von sieben, stark individualisierten 6- bzw. 7-Zimmer-Reiheneinfamilienhäusern. Der Zugang zu den Wohnungen in der Flamatt erfolgt vom Podest über den Kellerräumen über individuelle Treppen. Küche, Wohnzimmer und Balkon befinden sich im 1. Obergeschoss, dem unteren von zwei Wohngeschossen. Einen direkten Ausgang in den Garten gibt es nicht. In der Hofstatt ist der Zugang über die Nebenräume im Erdgeschoss oder über den gemeinschaftlichen Tennenboden im 1. Obergeschoss möglich. Die Wohnräume sind sehr individuell entweder im Erdgeschoss oder im 1. Obergeschoss angeordnet, alle Einheiten verfügen über mindestens einen direkten Zugang in den Garten.

Die Reihenhäuser der Hofstatt haben alle einen privaten, individuell gestalteten Garten. Zusätzlich steht allen Bewohner:innen ein gemeinschaftlicher Garten und die gedeckte, tennenartige Freifläche über den Garagen und Nebenräumen zur Verfügung. Alle Freiräume sind über direkte Zugänge von den Wohnungen zugänglich, es entstehen wertvolle Übergangs- und Kontaktbereiche. Die Wohnungen der Flamatt verfügen über private Loggien. Im Erdgeschoss gibt es als gemeinschaftlich nutzbare Flächen den «leeren» Raum unter dem Baukörper und die Rasenfläche, die das Haus umgibt.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die beiden Bauten sehr unterschiedlich sind – trotz der grossen Ähnlichkeit des mittelständischen bis gehobenen Zielpublikums und der Wohn- bzw. Eigentumsform. Die Flamatt ist als eigentlicher Fremdkörper in einem naturlandschaftlichen, durch Infrastrukturbauten geprägten Ort situiert. Sie hat einen eher technisch-skulpturalen Ausdruck, die Wohneinheiten sind stark standardisiert und verfügen über wenig wirklich gemeinschaftlich nutzbare Flächen. Der Aussenraum ist primär zum Anschauen da. Die Hofstatt hingegen befindet sich an einem kulturlandschaftlichen Ort und knüpft explizit an die dort vorhandenen Bautraditionen an. Sie hat einen eher handwerklich-informellen Ausdruck, die Wohneinheiten sind stark individualisiert und verfügen über sehr unterschiedliche, gemeinschaftlich nutzbare Flächen. Im Aussenraum wird zusammen gegärtnert und gefeiert. Die Grundrisse zeichnen sich durch eine gewisse Nutzungsneutralität und Anpassungsfähigkeit aus.

Erste Hypothesen zur Erneuerung der Architektur nach der Ölkrise

Natürlich ist es nicht möglich, aus der isolierten Betrachtung von zwei Einzelfällen verlässliche Schlüsse auf die Charakteristiken einer allgemeinen Entwicklung zu ziehen. Aus dieser vergleichenden Betrachtung lassen sich dennoch Thesen zur Veränderung des Selbstverständnisses der Architekt:innen in Bezug auf vier verschiedene Aspekte als Ausgangspunkt für die weiteren Untersuchungen ableiten:

KONTEXT: Die Architekt:innen interessieren sich wieder stärker für den Kontext, in dem ihre Bauten zu stehen kommen. Architektur ist in ihrer Auffassung lokal gebunden, wird vom spezifischen Ort, vom konkreten Kontext und der dort gepflegten Kultur massgeblich geprägt.

ZEIT: Die Architektur ist in den Augen der Architekt:innen auch ein Kind ihrer Zeit; sie steht nicht ausserhalb der historischen Kontinuität. Die Architektur hat sich in diesem evolutionären Prozess verändert und sie wird sich auch in Zukunft weiterentwickeln.

GESELLSCHAFT: Die Architekt:innen fühlen sich nicht einer zukünftigen, sondern der bestehenden Gesellschaft verpflichtet. Sie fassen die Architektur als sozial relevante Aufgabe auf, die dazu dienen soll, auf die Bedürfnisse der Individuen und der Gemeinschaft einzugehen.

METHODIK: Architektur wird weniger als das rationale Erarbeiten und Bereitstellen von Lösungen, denn als das empirische Suchen und Stellen von Aufgaben verstanden. Die Architektur ist in diesem Prozess nur einer von verschiedenen Akteuren. Allerdings postulieren die Architekt:innen für ihre Disziplin einen autonomen und umfassenden Anspruch.

Diese Feststellungen lassen nun zusammenfassend die folgende verallgemeinernde These zur Entwicklung eines Selbstverständnisses der Architektur formulieren: Es findet ein eigentlicher Paradigmenwechsel im besten Sinne des Wortes statt: Eine Abkehr vom rationalistisch-funktionalistischen Paradigma der Moderne und eine neue Ausrichtung hin zu einem empiristisch-kulturalistischen Selbstverständnis der Architektur. Dieser Paradigmenwechsel ist durch die ambivalente Charakteristik einer zukunftsgerichteten Rückwärtsgewandtheit gekennzeichnet – ganz im Sinne von «Back to the future!»

Quellen

  • Fosco, Benno, Jacquelin Fosco-Oppenheim und Klaus Vogt (Hg.), Arbeiten einer Architektengemeinschaft, Luzern, Architekturgalerie 1991.
  • Hofer, Paul, «L’École Tentaculaire», in: Heinrich Helfenstein et al. (Hg.), Paul Hofer an der Architekturschule. In der historischen Stadt das produktiv Lebendige, in der gegenwärtigen das Fortwirken des Vorausgegangenen, Zürich, gta Verlag 1980, S. 56–58.
  • [everelli], D.[iego], «Krisenzeiten», in: Das Werk, 62 (1975), Nr. 1, S. 21–22.
  • «Reiheneinfamilienhäuser in Flamatt bei Bern», in: Bauen + Wohnen, 16 (1962), Nr. 4, S. 149–154.
  • Schein, I., «Profiter de la ‹crise› – Von der ‹Krise› profitieren», in: Das Werk, 61 (1974), Nr. 419–422.
  • Schweizerische Ziegelindustrie (Hg.), Künftige Wohn- und Siedlungsformen (element, 31), Zürich 1994.
  • Stierlin, Henri, «Städtebau und Architektur vor einer schmerzhaften Umstellung. Im Spiegel der Energiekrise», in: Das Werk, 61 (1974), Nr. 4, S. 415–418.
  • «Wohnaus Hofstatt, Kappel SO», in: Das Werk, 70 (1983), Nr. 9 (Werk-Material, Beilage 4).

Literatur

  • Bignens, Christoph, «1955–1970. Ausbruch aus dem ‹befreiten Wohnen›», in: Arthur Rüegg (Hg), Schweizer Möbel und Interieurs im 20. Jahrhundert, Basel, Birkhäuser 2002, S. 176–195.
  • Blumenthal, Silvan, Das Lehrcanapé. Lucius Burckhardt und das Architektenbild an der ETH Zürich 1970–1973, Basel, Standpunkte 2010.
  • Design + Design (Hg.), Klaus Vogt. Architekt und Produktgestalter, Sulgen, Niggli 2014.
  • Furter, Fabian, «Jacqueline und Benno Fosco-Oppenheim, Architekten», in: Zeitgeschichte Aargau, Interview vom 18. Mai 2021; https://www.zeitgeschichte-aargau.ch/zeitzeugen-2/jacqueline-und-benno-fosco-oppenheim/ (Stand 21.02.204).
  • Lichtenstein, Claude, «1970–1985. Das Ende des Fortschritts und die Wiederentdeckung der Geschichte», in: Arthur Rüegg (Hg.), Schweizer Möbel und Interieurs im 20. Jahrhundert, Basel, Birkhäuser 2002, S. 214–235.
  • Meyer, Paul (Hg.), Reihenhaussiedlung in Kappel SO 1982. Arbeitsgemeinschaft Jacqueline Fosco-Oppenheim, Benno Fosco, Klasu Vogt 5118 Scherz, Zürich, VdF 1992 (Wohnbauten im Vergleich, Bd. 3).
  • Schnell, Dieter, Die Architekturkrise der 1970er-Jahre, Baden, hier + jetzt 2013.
  • Steiger, Peter, Chancen und Widerstände auf dem Weg zum nachhaltigen Planen und Bauen, Zürich, gta Verlag, 2009.
1 Atelier 5, Reihenhäuser Flamatt II, 1960–1961 (Foto: Julia Häfeli, Hochschule Luzern – Technik & Architektur).
5 Atelier 5, Reihenhäuser Flamatt II, 1960–1961 (Foto: Julia Häfeli, Hochschule Luzern – Technik & Architektur).
2 Architektengemeinschaft Fosco, Fosco-Oppenheim, Vogt, Reihen-häuser Hofstatt, Kappel, 1978–1982 (Foto: Noah Santer, Schweizer Heimatschutz).
7 Reihenhäuser Flamatt II, Grundrisse 1. und 2. OG (Bauen + Wohnen 1962).
3 Flamatt, 18. September 1979 (Swissair Photo AG, ETH-Bibliothek Zürich).
6 Architektengemeinschaft Fosco, Fosco-Oppenheim, Vogt, Reihen-häuser Hofstatt, Kappel, 1978–1982 (Foto: Noah Santer, Schweizer Heimatschutz).
4 Kappel (SO), 25. Mai 1991 (Photorama Color AG, ETH-Bibliothek Zürich).
8 Reihenhäuser Hofstatt, Grundrisse EG und 1. OG (Das Werk, 1983).