Vom Einfamilien- zum Mehrgenerationen-Haus

Inspiriert vom Jahresthema ‹In-Between›, das sich mit Agglomerationsräumen beschäftigt, widmen wir uns in diesem Semester den Grundlagen des Analysierens, Entwerfens und Konstruierens, indem wir uns auf das Einfamilienhaus fokussieren. Laut Bundesamt für Statistik sind mehr als die Hälfte aller Gebäude mit Wohnnutzung Einfamilienhäuser. Diese beliebte Wohnform gilt in der Schweiz als Symbol für Unabhängigkeit und Lebensqualität.

Waren die Einfamilienhäuser früher noch das Heim von Grossfamilien, werden sie in unserer alternden und mobilen Gesellschaft nach dem Auszug der Kinder oft über lange Zeiträume von Paaren oder Einzelpersonen bewohnt. Aus emotionalen oder finanziellen Gründen, aus Verbundenheit mit dem Ort und dem sozialen Netzwerk wird am eigenen Haus festgehalten, obwohl es oft nicht mehr zur Lebenssituation passt.

In der Semesterarbeit untersuchen wir, wie Einfamilienhäuser zu Mehrgenerationenhäusern umgebaut werden können. Die räumlich-charakteristischen Qualitäten sollen beibehalten und gleichzeitig die Nutzfläche durch kreative Zonierungen, Einbauten oder Mehrfachnutzungen unterteilt werden. Die Baugesetze spielen in dieser Vision keine Rolle, auch die Eingriffstiefe ist nicht definiert. Es dürfen unkonventionelle Strategien getestet und es darf lustvoll experimentiert werden. Ziel ist es, Häuser so umzubauen, dass sie mehrere Zugänge erhalten, Privatsphäre schaffen und flexibel an wechselnde Ansprüche angepasst werden können. Durch Unterteilungen, Erweiterungen und Aufstockungen von unterbelegten Einfamilienhäusern soll Platz für mehr Menschen in allen Lebensphasen
geschaffen und gleichzeitig die räumliche Qualität der Häuser verbessert werden. So kann das enorme Potenzial, welches im Einfamilienhausbestand liegt, aufgegriffen werden.

Block 1: Mensch – Architektur – Material

In der ersten Woche analysieren wir die Qualitäten des Vorhandenen und untersuchen die Besonderheiten bestehender Architekturen, deren räumliches Potenzial es zu entdecken und in den Fokus zu rücken gilt. Beim gemeinsamen Bauen einer Skulptur aus persönlichen Gegenständen, inspiriert von den ‹Equilibres› des Künstlerduos Fischli und Weiss, die Alltagsgegenstände zu Balanceakten zusammenbrachten, lernen wir uns gegenseitig kennen und uns in einer grossen Gruppe zu organisieren. Wir lernen zu kooperieren, statisches sowie räumlich-künstlerisches Fügen auszuloten und gemeinsam einen gestalterischen Ansatz zu finden.

Mit der Analyse verschiedener Ikonen von Einfamilienhäusern starten wir anschliessend in das Semesterprojekt. Wir untersuchen sie auf ihren besonderen Charakter hin, auf ihre Entstehungsgeschichte, ihr Raumgefüge aber auch ihre Kennzahlen, was Nutzfläche und Flächenverbrauch anbelangt. Wir vergleichen sie mit Einfamilienhäusern aus unserem Umfeld, die wir aufmessen und aufzeichnen, und deren Nutzungsgeschichte und Chronik hinsichtlich der Bewohnerschaft wir dokumentieren. Wir stellen zudem atmosphärische Beobachtungen an, um die Qualitäten des Bestands aufzudecken, die wir in unseren Entwurf einflechten möchten.

Mit einer Lupe untersuchen und zeichnen wir die Materialien, die in den Gebäuden verbaut sind. Wir lernen die gestalterischen und konstruktiven Eigenschaften des Materials kennen, deren Haptik sowie deren Lebenszyklus. Es geht darum zu verstehen, woher die Materialien kommen, wie die Rohstoffe gewonnen, verarbeitet und am Ende ihrer Lebensdauer entsorgt oder weiterverwendet werden. Dabei interessieren uns die räumlichen Auswirkungen unserer Materialwahl, Negativräume, welche sie durch das Abbauen der Rohstoffen zurücklassen. Wir dokumentieren zeichnerisch unsere Erkenntnisse in einem Materialtriptychon zu den Themen Herstellung, Verarbeitung und Entsorgung.

Block 2: Struktur und materialgerechte Konstruktionen

Im zweiten Block erlernen wir, wie man Räume und Strukturen mit Hilfe von drei unterschiedlichen Prinzipien erstellt. Dazu ordnen wir die untersuchten Materialien in solche ein, die als Masse verarbeitet werden (Recyclingbeton, Stampflehm, Hanfkalk, CO2-armer Beton, selbstverdichtender Beton, etc.), die als Module eingesetzt werden (Lehmvollstein, Klinker, Strohballen, Kalkstein, Kork, Kalksandstein, Porenbeton, Planziegel, etc.) oder die man als Stäbe einsetzt (Pappe, Bambus, Stahl, Vollholz, Brettschichtholz, Aluminium, etc.). Wir untersuchen dabei Positiv- und Negativraum, experimentieren mit den Prinzipien des Mauerverbandes und lernen Gesetzmässigkeiten des Fügens von stabförmigen Elementen kennen.

Wir besuchen regelmässig Bauwerke, um Architektur und Konstruktionsprinzipien direkt vor Ort zu erleben. Wir konzentrieren uns dabei nicht nur auf den Raum, die Nutzer und Nutzerinnen, die Wegeleitung, die Sinneseindrücke oder die Zonierungen, sondern auch auf die Kräfte, die in die Fundamente und den Boden abgeleitet werden.

Wir betrachten ebenfalls die physikalisch-klimatischen Einflüsse von Wasser, Temperatur und Sonne auf die Konstruktion und untersuchen, wie diese auf Klima, Topografie, Ort und Ausrichtung reagiert. Dabei erlernen wir die wesentlichen Grundlagen der architektonischen und konstruktiven Raumbildung und entwickeln eine Matrix, mit der wir Gebäude ganzheitlich bewerten diskutieren zu können.

Block 3: Mehrgenerationenhaus

Die gewonnenen Erkenntnisse fliessen in das Semesterprojekt ein, für das wir ein Mehrgenerationenhaus entwerfen. Ziel ist es, das Einfamilienhaus zu transformieren. Einen charakteristischen Moment arbeiten wir in einem Detailmodell aus, um die architektonische Idee zu verdeutlichen. Dabei üben wir die Konstruktionsprinzipien am Modell und setzen die Materialien entsprechend ihrer Eignung ein. Die Studierenden erarbeiten sich damit ein breites Repertoire an Entwurfswerkzeugen und -methoden und lernen die Zusammenhänge von Gestalt, Konstruktion, Material und Funktion kennen. In einem kontinuierlichen Diskurs im Atelier mit Mitstudierenden, Lehrenden und Gästen reflektieren wir das Erlernte und nähern uns gemeinsam der Antwort auf die Frage an, was Entwerfen ausmacht und wie es gelingen kann.

Einfamilienhaus in Oberwil, Julian Salinas
Einfamilienhaus in Oberwil, Julian Salinas
Einfamilienhaus in Bettlach, Julian Salinas