Sehnsuchtsort Gewerbegebiet
Von Potentialen, Lebensräumen und Nachbarschaften
Eines der Hauptcharakteristika der Agglomeration sind die Gewerbegebiete. Das sind meist uniforme, identitätslose Ansammlungen unabhängiger, grossmassstäblicher Produktions-, Verteil- und Lagerhallen mit isolierten Energiehaushalten und voneinander getrennten Nutzungen und Nutzerschaften. Sie folgen der Logik der Logistik und Produktionsketten, nicht aber dem menschlichen Massstab. Meist bleiben sowohl die vier Fassaden als auch die Dachflächen unbespielt, funktions- und fensterlos, sie sind oft karg und pragmatisch, ohne architektonischen Anspruch entwickelt. Freiflächen dienen primär als Verkehr- und Umschlagsflächen. Dennoch sind Gewerbegebäude essenziell für Produktion, Lagerung und Distribution. Sie sind Resultate des Konsums, der zunehmenden Internetnutzung sowie des Onlinehandels. Während städtische Räume präzise und kleinmassstäblich durchgeplant werden, entstehen die Gewerbegebiete als unkontrollierte, scheinbar zufällig entstandene Räume. Wird im städtischen Raum der Nutzungsdruck auf die Flächen immer höher und händeringend nach den kleinsten Flächen z.B. für PV-Anlagen gesucht, liegen hier riesige Flächen brach und Abwärme wird nicht genutzt.
Vision 2050: Vom Solitär zum Organismus
Was wäre, wenn Gewerbegebiete als vernetzte Systeme gedacht würden – als attraktive Aufenthaltsorte, Biodiversitätsräume und Energieproduzenten? Könnten sie zu hybriden, zukunftsfähigen Strukturen transformiert werden, die soziale, technische und räumliche Zusammenhänge schaffen? Was, wenn heterogene Kleinstrukturen mit hochoptimierten Gewerbeparks interagieren? Diesem versteckten Potential wollen wir nachspüren und die unterschätzten Räume erforschen, um sie besser zu verstehen, und um Perspektiven und zukunftsfähige Visionen für Gewerbegebiete zu entwickeln.
Entwicklung eines Zukunftsszenarios
Wir starten mit einer Bestandsaufnahme von verschiedenen Gewerbegebieten entlang der A1, untersuchen ihre historische Entwicklung, ihre bauliche Struktur, die Vegetation, Logistik und Wegebeziehungen. Welche Firmen sind angesiedelt, wie funktioniert der Arbeitsalltag, werden Energie und Wasser genutzt? Welche Qualitäten und Defizite bestehen, wo sind Eingriffe sinnvoll? Wie kann sich der Ort trotz der zu erhaltenden Produktion entwickeln, wo liegen die Potenziale, wo vielleicht sogar ungehobene Schätze? Wir dokumentieren den Ort mit all unseren Sinnen.
Parallel dazu analysieren wir soziale und funktionale Schnittstellen: Wie interagieren die Betriebe miteinander? Welche Synergien existieren bereits, und wo gibt es ungenutzte Möglichkeiten? Durch Beobachtungen, Interviews und Kartierungen gewinnen wir ein Verständnis für die Funktionsweise der Gewerbegebiete und entwickeln darauf aufbauend Szenarien für ein vernetztes Gewerbegebiet.
Kleiner Eingriff, grosser Mehrwert
In einem zweiten Schritt identifizieren wir ungenutzte Räume, Baulücken, Restflächen, nicht genutzte Dachflächen oder Durchfahrten, die als Knotenpunkte für neue Vernetzungen dienen, fehlende Funktionen ergänzen oder die Biodiversität erhöhen können. Es sollen kleine architektonische und infrastrukturelle Ergänzungen entworfen werden, die bestehende Gebäude verknüpfen, Fassaden erweitern, Räume erschliessen und das Gewerbegebiet als Einheit erfahrbar machen, ohne es in seinem Betrieb zu stören. Wir machen uns auf die Suche nach neuen Typologien, die Identität und Aufenthaltsqualität schaffen und Teil mehrerer vernetzter Lebensräume sind. Die so gedachten Konstruktionen erweitern das Gewerbegebiet um Erholungsräume, Ausweichflächen, geteilte Nutzungen, öffentliche Orte der Begegnung, des Diskurses, der Kultur und vieles mehr.
Konstruktion, Detail und Ganzes
Wir entwerfen Räume mit den Themen Licht und Schatten, Öffnung und Rückzug, Wegeleitung, Schwellen und Raumhierarchien. Wir definieren das passende Material für unsere Konstruktionen und untersuchen, wie Alt und Neu gefügt werden können. Zudem vertiefen wir das Verständnis für konstruktionsbestimmende Einflüsse, insbesondere physikalische Gesetzmässigkeiten. Um unser architektonisches und konstruktives Repertoire zu erweitern, sammeln und vergleichen wir gebaute Details, sowohl vor Ort als auch auf der Studienreise, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema Wasser, Sonne, Gewicht oder Nutzung umgehen. Wir untersuchen, wie sich die Konstruktionen durch klimatische Einflüsse verändern und erörtern, was unter Klimaanpassung zu verstehen ist. Die Erkenntnisse fliessen in die Gestaltung der Projekte ein. Nicht zuletzt beschäftigen wir uns mit dem Prozess des Bauens und mit konkreten gebauten Beispielen, die wir gemeinsam besichtigen. Die erarbeiteten Projekte werden wir untereinander und mit unterschiedlichen Gästen und Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen diskutieren. Auch dieses Semester geht es darum, möglichst ganzheitliche Projekte zu entwickeln.